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Ein Tag in der Hölle

Von Veronika Eschbacher, Kabul

Politik

Abdullah Sayeed überlebte drei Bomben bei der Beerdigung eines Demonstranten.


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Abdullah Sayeed sitzt im Halbdunkel seiner Gartenlaube. Die Sonne ist vor gut einer Stunde untergegangen, und durch die Blätter des Weintraubenstocks über ihm scheint der Mond auf sein Gesicht. Die gesamte Familie, alle Kinder, aber auch Freunde haben sich rund um ihn versammelt. "Der Mullah sprach Allahu Akbar das erste Mal", erzählt er mit ruhiger Stimme. "Dann zum zweiten Mal, Allahu Akbar." Plötzlich wird seine Stimme laut. "Dann machte es Boom! Boom! Boom!" Die Kinder zucken zusammen. Sayeed schließt kurz die Augen, legt seinen Kopf in den Nacken und blickt schließlich in den sternenüberzogenen Himmel.

Ramin, der Jüngste, hebt ein Glas Tee vom Boden und reicht es Sayeed. Er bedankt sich lächelnd und zieht den Kopf des kleinen zu seinem Gesicht, sodass sie sich an der Stirn treffen. "Was für ein Tag", sagt Sayeed schließlich und wirft einen Kern auf die Gartenerde vor sich. Als kleine feierliche Geste, dass Sayeed sein Heim unverletzt zurückgekehrt war, gab es für alle je zwei Marillen.

Es war der dritte Tag in dieser Woche in Kabul mit unzähligen Toten. Am Mittwoch war im Diplomatenviertel eine massive Bombe detoniert und hatte über 100 Menschen in den Tod gerissen. Bei Protesten gegen die Unsicherheit im Land und die Gewalt von Terrorgruppen hatten afghanische Sicherheitskräfte am Freitag mit scharfer Munition auf die Demonstranten geschossen, dabei verloren acht Menschen ihr Leben. Und als sich am Samstag tausende Menschen versammelt haben, um den Sohn des Vizesprechers des afghanischen Oberhauses das letzte Geleit zu geben, rissen drei Bomben erneut 18 Menschen in den Tod.

"Der Sarg stand noch immer da, als Menschen rund um ihn tot umfielen", erzählt Sayeed. Die Menschen seien in alle Richtungen gelaufen, niemand habe wirklich gewusst, wo oben oder unten ist. Weitere Details erspart er den Anwesenden. Viele aber hatten ohnehin am Nachmittag bereits in sozialen Medien Videos und Bilder des Blutbads gesehen. "Bitte Kaka", bitte Onkel, sagt eines der Mädchen, "geh morgen nicht mehr hinaus."

Zum Begräbnis war fast die gesamte Führungsriege der Jamiat-e Islami, der Partei des afghanischen Regierungsgeschäftsführers Abdullah Abdullah, der auch der Vater des getöteten Demonstranten angehört, gekommen. Der Ort rund um den Friedhof war durch eine Kette von Sicherheitsfahrzeugen und gepanzerten Autos umringt. Die Jamiat-Führer standen in der ersten Reihe vor dem Sarg, als die Bomben detonierten. Die Wucht der Detonation schleuderte den Vater des jungen Mannes im Sarg fünf Meter weit.

Sayeed wird wie alle anderen in der Gartenlaube unerbittlich von Gelsen gestochen, doch er wehrt sich nicht. Vielmehr trinkt er ein Glas Tee nach dem anderen. Es ist Ramadan, und die Menschen in Afghanistan fasten und essen und trinken tagsüber nicht. "Ich hatte schon morgens ein ungutes Gefühl", sagt Sayeed irgendwann. Er habe extra seine Waffe im Haus gelassen, um bei einer möglichen Eskalation auf Angriffe nur mit Worten antworten zu können. Zu viel Blut sei diese Woche bereits geflossen, habe er sich gedacht, als er sie zwischen Handtüchern in einem Schrank versperrte.

Vor dem Begräbnis hatte Sayeed das Protestzelt, das nahe des Anschlagortes vom Mittwoch aufgestellt worden war, besucht. Trotz der getöteten Demonstranten vom Vortag waren mehrere hundert Menschen gekommen. Hatte am Vortag hier Chaos geherrscht und waren den ganzen Nachmittag Gewehrsalven zu hören, so dominierten am Samstag Worte. Vom Rednerpult hielten einfache Bürger bishin zu Parlamentsmitgliedern Ansprachen, die über die Lautsprecher durch den Kabuler Stadtteil Wazir Akbar Khan hallten. Sie forderten Gerechtigkeit, die Aufklärung darüber, wer den Schießbefehl gegeben hatte und wer für den Anschlag vom Mittwoch verantwortlich ist und verurteilten die Regierung. Die Parlamentsabgeordnete Nilofar Ibrahimi rief die Demonstranten dazu auf, überparteilich und ohne Rücksicht auf ihre Ethnien einen Forderungskatalog zu überlegen.

Während Sayeed noch immer mit seiner Familie im Garten sitzt, läuft im Haus lautlos der Fernseher. Der Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, der den Anschlag überlebt hat, wendet sich in einer Ansprache an die Bürger des Landes und ruft zu Ruhe und Besonnenheit im Land auf. Er offerierte an dem Tag sogar seinen Rücktritt, "sollte dies helfen." Wenig später wird auch eine Rede des Präsidenten Ashraf Ghani übertragen. Er gesteht ein, dass Reformen im Sicherheitssektor notwendig sind und verspricht deren baldige Implementierung. Auch die Schüsse auf die Demonstranten würden gründlich untersucht werden.

Sayeed zuckt mit den Schultern, als ihn eines der Mädchen fragt, wer denn hinter all den Anschlägen stecke. Die Bomben beim Begräbnis seien wohl ein Angriff auf die Jamiat-e Islami gewesen, mutmaßt er, aber so genau wisse das niemand. Sayeeds Telefon läutet, ein Freund aus Europa ruft an und bekniet ihn, doch das Land zu verlassen. Sayeed aber schüttelt den Kopf. "Ich bleibe in der Hölle", sagt er und lächelt alle an. "Wir werden weiterkämpfen, bis unser Land ein Paradies auf Erden ist, nicht wahr?"

Bisher hat sich niemand zu den Anschlägen bekannt. Der afghanische Geheimdienst erklärte, hinter der massiven Bombe vom Mittwoch stehe das Haqqani-Netzwerk, ein Flügel der Taliban. Es kursieren aber dutzende weitere Gerüchte in der Stadt, bis hin zu einer amerikanischen Cruise Missile, die aus dem Indischen Ozean abgefeuert worden sein soll. In Wirklichkeit weiß hier schon lange niemand mehr, wer hier gegen wen kämpft.

Als alle schließlich aufstehen, um ins Haus zu gehen, schütteln sie die Köpfe. "Khayli khatarnak ast", es ist sehr gefährlich, flüstern sie einander zu. Sayeed leistet der Bitte eines der Mädchen aber nicht Folge. Bereits am Sonntagmorgen sitzt er wieder, im Schatten eines Baumes, bei den Demonstranten im Zentrum der Stadt.