In Südfrankreich helfen Dorfbewohner aus Italien kommenden Migranten - und trotzen der offiziellen Flüchtlingspolitik.
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Paris. "Hier bringen wir sie unter", sagt Françoise Gogois. Die 65-Jährige deutet auf zwei Matratzen im oberen Stock ihres Hauses. Die Laken sind noch zerwühlt. Zwei junge Männer aus Guinea haben erst am Vortag dort geschlafen. "Sie irrten im Dorf umher und wussten nicht wohin", erzählt Françoises Mann Sylvain: "Da hat sie ein Ladenbesitzer zu uns geschickt." Mittlerweile sind die Gogois im ganzen Tal bekannt. Seit knapp zwei Jahren gewährt das Ehepaar Flüchtlingen bei sich zu Hause Unterschlupf und ist damit nicht alleine.
Südfrankreich, das Roya-Tal, benannt nach dem türkisblauen Fluss, der sich gemächlich zwischen den schroffen Felshängen hindurchschlängelt: Etwa 6000 Menschen leben hier, an der Grenze zu Italien, zwischen Olivenhainen und Pinien, in kleinen Bergdörfern.
Gerade hier, mitten im tiefkonservativen Département Alpes-Maritimes, wo jedes Jahr tausende Migranten zu Fuß über die italienisch-französische Grenze kommen, öffnen die Dorfbewohner bereitwillig die Türen. Mehr als zwanzig Familien, Pensionisten, Landwirte und Akademiker geben den Ankömmlingen zu essen, versorgen diese mit Kleidung und fahren sie nach Nizza, wo ein Asylantrag gestellt werden kann.
Gastfreundschaft hat im Roya-Tal eine lange Tradition. In den letzten Jahrhunderten wechselten die Menschen hier selbst öfter die Staatszugehörigkeit. Ihre Dörfer gehörten einmal zu Italien, dann wieder zu Frankreich. Grenzen und Nationalitäten verloren für sie an Bedeutung.
Nur eine Etappe auf dem Weg nach Paris
"Wir haben das nicht geplant, aber als wir die erschöpften Gesichter vor unserer Tür sahen, konnten wir nicht anders, als sie hereinzubitten", sagt Françoise Gogois. Das Ehepaar lebt in dem 80-Seelen-Dorf Libre, von dessen Hang man bis in die Tiefen des Tals blicken kann. Viele Migranten kamen in den letzten zwei Jahren auf dem Weg durch die Berge direkt an dem Haus vorbei. "Bei uns können sie verschnaufen, bevor sie ihre Reise fortsetzen", erzählt die Pensionistin. Das Roya-Tal ist für die meisten Flüchtlinge nur eine Etappe. Sie wollen weiter nach Paris oder Großbritannien.
Durch ihre Hilfeleistungen bekommen die Franzosen allerdings öfters Schwierigkeiten mit dem Gesetz. Im November 2015 hat Frankreich als Folge des Ausnahmezustandes, der nach den Terroranschlägen in Paris verhängt wurde, seine Kontrollen an der italienischen Grenze wieder eingeführt. Seitdem ist es für Migranten so gut wie unmöglich, legal ins Land zu kommen. Helfen Dorfbewohner jenen, die unerlaubt einreisen, wird das von den französischen Behörden immer wieder als Beihilfe zum illegalen Aufenthalt angesehen.
Françoise Gogois weiß das aus eigener Erfahrung. Vor einem Jahr brachte sie mit Freunden sechs Eritreer über die Berge ins Nachbardorf. Doch die Gruppe wurde von Gendarmen gestoppt, Gogois und drei weitere Pensionisten wurden festgenommen und angeklagt. Am 13. Dezember verurteilte sie das Berufungsgericht von Aix-en-Provence zu einer Geldstrafe von 800 Euro auf Bewährung. "Die muss ich zwar nicht zahlen, aber verurteilt bin ich trotzdem", murmelt die Frau. Sie will nun vor das Kassationsgericht in Paris ziehen und vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
"Tatsächlich sind es die französischen Behörden, die Illegales tun", empört sich ihr Mann Sylvain. Die Polizisten, die im Tal patrouillieren, würden auch unbegleitete Minderjährige regelmäßig zurück nach Italien schicken, obwohl diese laut der UN-Kinderrechtskonvention besonderen Schutz genießen.
Der Präfekt des Départements Alpes-Maritimes, Georges-François Leclerc, wurde vom Verwaltungsgericht in Nizza bereits zweimal wegen Verstößen gegen das Asylrecht verurteilt. Amnesty International prangerte im April 2017 die "Versäumnisse Frankreichs" an, "den Schutz und die Rechte der Migranten zu gewährleisten".
Im Roya-Tal überwachen seit der Grenzschließung Polizei und Militär Bergpässe, Straßen und Bahnstrecken. Jedes Fahrzeug wird bei der Einfahrt ins Tal durchsucht. Mit der strengen Sicherheitspolitik hat die Zahl der Ankömmlinge in den vergangenen Monaten abgenommen. "Seit August kommen nur mehr wenige Migranten hier durch", erklärt Gogois.
Ein Stück weiter taleinwärts sitzt Cédric Herrou in Daunenjacke und Wollpulli auf seiner Veranda. Längeres schütteres Haar, dunkle, tief sitzende Augen, Brille: Herrou ist das wohl bekannteste Gesicht im ganzen Roya-Tal. Auf seinem Hof hat der 38-jährige Olivenbauer so viele Menschen aufgenommen wie kein anderer. "Im Juli waren hier tagelang mehr als 200 Leute", sagt er. Manche blieben nur eine Nacht, andere Wochen oder gar Monate. Für seine Gäste hat Herrou auf dem Hof eine Freiluftküche, Duschkabinen und Toiletten zugebaut. Daneben stehen zwei Wohnwägen und mehrere Zelte.
Verurteilt wegen "Behilfe zum Eintritt"
Im August wurde der Landwirt zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, wegen "Beihilfe zum Eintritt und Aufenthalt von Flüchtlingen mit illegalem Aufenthaltsstatus". "Unglaublich", findet er: "Von einer unabhängigen Justiz kann da keine Rede sein."
Ans Aufhören denkt Herrou nicht. Derzeit leben aber nur zwei Eritreer und ein Sudanese bei ihm. "Viele Flüchtlinge nehmen mittlerweile einen anderen Weg nach Frankreich", sagt der Mann. Die verschärften Polizeikontrollen im Tal bringen immer mehr Migranten dazu, weiter nördlich, in den Alpen, die Grenze zu passieren. Vor allem im Winter ist die Route sehr gefährlich. "Einige sind barfuß da draußen, im Schnee, bei Minusgraden", fügt Herrou bitter hinzu. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen dort Leichen vom Berg tragen müssen.
In den vergangenen Wochen wurde in Frankreich wieder heftig über die Aufnahme von Flüchtlingen diskutiert. Mitte Dezember hatten mehrere Bürgermeister, darunter die Sozialistin Martine Aubry (Lille), aber auch ihr konservativer Amtskollege Alain Juppé (Bordeaux), in der Tageszeitung "Le Monde" die fehlende Unterstützung des Staates beklagt. "Die Ankömmlinge in menschenwürdigen Bedingungen aufzunehmen, liegt in unser aller Verantwortung", betonten die Politiker.
Staatspräsident Emmanuel Macron schlägt hingegen rauere Töne an. Er will in der Migrationspolitik einen härteren Kurs fahren: schnellere Abschiebungen und mehr gezielte Kontrollen - auch in humanitären Notunterkünften.
Im Roya-Tal gibt es keine einzige Flüchtlingsunterkunft, was wohl auch an der politischen Orientierung der Region liegen dürfte. In manchen Dörfern erhielt der rechtsextreme Front National bei der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr mehr als 50 Prozent der Stimmen. Seine Anhänger hatten im Juni die Bewegung "Défendre La Roya" (Verteidigt das Roya-Tal) gegründet mit dem Ziel, Flüchtlingshelfer bei den Behörden anzuzeigen. "Seit ein paar Wochen ist es um sie aber still geworden", berichtet Cédric Herrou.
Doch auch in den Gassen der Bergdörfer finden die Hilfsaktionen nicht überall Anklang. "Ich bin klar dagegen", poltert der 61-jährige Albert Diana in der 2000-Einwohner-Gemeinde Breil-sur-Roya. Für ihn sind die Geflüchteten der Grund, warum er seinen Altwarenladen schließen muss. "Seit sie da sind, kommen viel weniger Touristen ins Dorf", ist Diana überzeugt.
"Die Frage hat die Gemeinde gespalten, so viel steht fest", betont der Geschäftsführer des Hotels La Bonne Auberge, Franc Masséglia. Manche Dorfbewohner würden sich auf der Straße nicht mehr grüßen. Dass die Verstärkung der Sicherheitskräfte im Tal gut für sein Geschäft ist, kann Masséglia aber nicht leugnen. 16 Gendarmen hat er im Hotel untergebracht. "Wobei ich mein Geld lieber mit Touristen verdienen würde", räumt er ein.
Der Traum von Frankreich in Ventimiglia
Zwanzig Kilometer weiter, im italienischen Ventimiglia, richtet Stéphane Faccéndini auf Papptellern Gemüsebrei und Salat an. Jeden Abend trifft sich der Franzose mit anderen Helfern auf einem Parkplatz nahe der Autobahnbrücke. Dort verteilen sie warme Speisen und Tee an Migranten. Die vollen Teller dampfen in der kalten Nachtluft. Etwa 150 junge Männer und ein Dutzend Frauen stehen vor der Essensausgabe Schlange. Die meisten kommen aus Eritrea, dem Sudan und dem Südsudan. Sie tragen dicke Jacken, Wollmützen und Handschuhe. Viele schlafen im Freien unter der Brücke. Der Traum von Frankreich lässt sie in Ventimiglia ausharren.
"Eines Tages", hofft der 27-jährige Sudanese Joseph. Zweimal hat er bereits versucht, über die Grenze zu kommen: zu Fuß der Côte d’Azur entlang und mit dem Zug. Den Weg über das Roya-Tal will er nicht riskieren. "Zu viele Kontrollen, da kommt niemand mehr durch", mischt sich ein Junge aus Guinea ein.
"Ganz so ist es nicht", sagt Stéphane Faccéndini verschmitzt. In sein Bergdorf Sospel, südlich des Tals, würden es noch mehr Menschen schaffen. "Manchmal erkläre ich ihnen hier in Ventimiglia den Weg. Wenn sie dann bei uns ankommen, helfe ich ihnen weiter", gibt der 42-Jährige zu. Angst vor Konsequenzen hat er nicht. "Solange wir sie nicht über die Grenze bringen, kann uns wenig passieren", meint er.
Gegen 21 Uhr verlässt der Zug den Bahnhof von Ventimiglia. In Menton-Garavan, dem ersten Halt auf französischer Seite, steigt ein Polizist in den Waggon. "Haben Sie Migranten gesehen?", fragt er die Fahrgäste. Niemand antwortet. Er geht ins nächste Abteil und steigt wenig später aus, ein dunkelhäutiges Mädchen im Schlepptau. Für sie endet der Traum von Frankreich hier, zumindest an diesem Abend.