Eine Studie erschwert künftig die politische Manipulation mit den Opferzahlen des Bosnien-Krieges.
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Bald ist es zwölf Jahre her. Es war Mitte Juli 1995, als tausende Bosniaken aus Srebrenica in die Wälder flohen. Kurz zuvor hatten serbische Truppen begonnen, die Stadt zu beschießen. Und kurze Zeit später war fast ein Drittel der Bevölkerung Srebrenicas ausgelöscht. Festgenommene Flüchtlinge wurden meist sofort getötet. In der Stadt selbst wurden zunächst Frauen und Kinder von den Männern getrennt und mit Bussen in bosnisch kontrolliertes Gebiet geschickt. Die Männer, die meisten von ihnen zwischen 16 und 70 Jahren alt, wurden in Kaufhäuser, Schulen und Ställe gesperrt und erschossen.
Der Name Srebrenica steht für eines der schlimmsten Kriegsverbrechen seit 1945. Doch es war nicht der einzige Ort, wo im Bosnien-Krieg 1992 bis 1995 Massaker verübt wurden.
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Srebrenica: 7711.
Prijedor: 5209.
Zvornik: 4127.
Bratunac: 3604.
Vlasenica: 2934.
Visegrad: 1760.
Sarajewo: 14.011.
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Die Zahlen, die das Zentrum für Forschung und Dokumentation in Sarajewo veröffentlicht hat, haben mehr als statistischen Wert. Denn dahinter stehen die Namen der Toten und Vermissten im Bosnien-Krieg. Mehr noch: Geburtsort, ethnische Herkunft, Alter, Beruf, Umstände des Todes sind ebenfalls dokumentiert. Die Listen sind nach Regionen, Zeitabschnitten und Volksgruppen geordnet.
Fast fünf Jahre lang haben mehr als hundert bosnische und ausländische Experten für die Studie "Menschliche Verluste in Bosnien-Herzegowina" gearbeitet, im Auftrag des (regierungsunabhängigen und teils von internationalen Sponsoren finanzierten) Dokumentationszentrums. Sie haben tausende Seiten an Schriftstücken gelesen und verglichen, Militärstatistiken und staatliche Archive durchforstet, das ganze Land bereist und mehr als 8000 Interviews geführt. Sie berücksichtigten Zeugenaussagen ebenso wie Inschriften auf Grabsteinen.
Es sei ein einzigartiger Mix aus quantitativer und qualitativer Forschung gewesen, erklärt Mirsad Tokaca, der Leiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums. Die bisherigen Schätzungen der Kriegsopfer beruhten nicht alle auf Beweisen und waren oft politisch motiviert. Sie reichten von 20.000 bis 350.000 Toten.
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Mindestens 97.207 Tote und Vermisste, davon 16.662 Verschollene.
Bosniaken: 65,7 Prozent.
Serben: 25,6 Prozent.
Kroaten: 8 Prozent.
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Das seien die - erstmals belegten - Zahlen der Opfer von Kriegshandlungen, betont Tokaca. Sie beinhalten aber nicht die Todesopfer durch Selbstmorde, Hunger oder mangelnde hygienische Versorgung. Sie seien auch nicht endgültig. Die Zahl der Toten und Vermissten werde wohl auf mehr als 100.000 Menschen steigen.
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Von den Getöteten waren 57.523 Armeeangehörige und 39.684 Zivilisten.
Von den Zivilisten waren mehr als 20 Prozent Frauen und 3,5 Prozent Kinder.
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Die politische Instrumentalisierung der Opferzahlen ist in Bosnien-Herzegowina nicht selten. Ob bosnische, serbische oder kroatische Politiker - bei Wahlkampfreden oder in Parlamentsdebatten verweisen sie immer wieder darauf, wer an wem Massaker begangen und Schuld an der Zerstörung des Landes hat. Die Opferzahlen der eigenen Volksgruppe werden dabei oft erhöht, deren Leid wird in den Vordergrund gestellt. So war immer wieder - auch in der westeuropäischen Presse - von bis zu 250.000 getöteten Bosniaken die Rede. Viele Serben und Kroaten wiederum sahen auch geringere Zahlen als übertrieben und das Schicksal ihrer eigenen Volksgruppen als unterbelichtet an.
Dass der perverse Wettbewerb um die höchste Opferzahl nun völlig aufhört - diese Hoffnung hat Direktor Tokaca nicht. Die politische Manipulation könnte allerdings künftig erschwert werden.