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Ein toter Oberst schickt Soldaten aus

Von Michael Schmölzer

Politik

Nach dem Tod des Diktators steuert Libyen in eine ungewisse Zukunft.


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Tripolis. Muammar Gaddafi ist seit drei Monaten tot, seine Leiche wurde an einem geheimen Ort in der Wüste verscharrt. Bewaffnete Anhänger des Revolutions-Obersten ziehen aber weiter durch Libyen, widersetzen sich der neuen Ordnung und sorgen für Verunsicherung.

Am Montag gingen die Getreuen des Ex-Diktators sogar in die Offensive und drangen in die strategisch wichtige Stadt Bani Walid ein. Sie schlugen die dort stationierten Regierungsmilizen in die Flucht und hissten die Grüne Fahne - von der alle gedacht hätten, sie gehöre längst einer dunklen Vergangenheit an.

Bani Walid ist strategisch wichtig und liegt nur rund 150 Kilometer südlich von Tripolis. Die Stadt war am 17. Oktober als eine der letzten Gaddafi-Hochburgen in die Hände der Rebellen gefallen. Bis heute trauert man hier der Gaddafi-Ära nach, will die neuen Gegebenheiten nicht akzeptieren. Erst im November waren 15 Milizionäre des Nationalen Übergangsrates getötet worden, es herrscht böses Blut zwischen den Widerspenstigen und den Revolutions-Milizen.

Der Nationale Übergangsrat unter der Führung von Mustafa Abdul Jalil hat alle Hände voll zu tun, den neuen Brandherd zu löschen und die Einheit Libyens zu verteidigen. Am Montag rückte eine 1500 Mann starke Brigade aus, um die abtrünnige Stadt zurückzuerobern, die libysche Luftwaffe schickte umgehend Flieger. Fünf Tote und 20 Verletzte gibt es bereits. Die Gaddafi-Männer sind gut bewaffnet, sie verfügen über Artillerie. Für die neue Regierung steht viel am Spiel: Wenn es ihr nicht gelingt, die Lage schnell in den Griff zu bekommen, würde ihre Schwäche offenbar.

Gefechtslärm in Tripolis

Unverdrossene Anhänger Gaddafis sind nicht das einzige militärische Problem, mit dem die libysche Führung konfrontiert ist. Rivalisierende Rebellen-Verbände verfügen nach dem Sieg im Herbst immer noch über Waffen und weigern sich beharrlich, das Kriegsgerät abzugeben. Man wolle noch zuwarten, bis eine einheitliche Polizei und Armee aufgebaut seien, heißt es.

Immer wieder geraten Milizen verfeindeter Ortschaften aneinander, es kommt zu blutigen Gefechten. Zuletzt wurde etwa 80 Kilometer südlich von Tripolis gekämpft. Eine Miliz aus Gharian und andere Rebellen beschossen einander, zwei Menschen wurden getötet, 40 verletzt. Zu Beginn des Jahres war in Tripolis Gefechtslärm zu hören, als eine Einheit, die dem Übergangsrat untersteht, und eine autonom agierende aufeinander schossen. Sechs Tote blieben auf den Straßen der Hauptstadt liegen.

Dazu kommt, dass der libyschen Bevölkerung langsam der Geduldsfaden reißt. Seit zwei Wochen gehen wütende Menschen in Benghazi auf die Straße, um gegen den Nationalen Übergangsrat zu protestieren. Es ist ein allgemeines Unbehagen, das die Menschen wütend macht. Die neuen Verantwortlichen würden die tausenden toten Märtyrer, die der Umsturz gekostet hat, nicht würdigen, heißt es. Es sei kein sozialer Fortschritt erkennbar, so die Demonstranten, die sich im Osten des Landes versammeln.

Viele Studenten und Gebildete fürchten, dass das Versprechen von Freiheit, Pluralismus, demokratischen Idealen und neuem Wohlstand zur leeren Phrase verkommt. "Im Sommer sollen Wahlen stattfinden, doch niemand weiß, worüber er eigentlich abstimmen soll", beschwert sich ein Student gegenüber dem TV-Sender Al-Jazeera. Frauen, die der städtischen Intelligenz angehören, sind verunsichert: Nur zehn Prozent der Mandate der Parlamentarischen Versammlung sind für weibliche Abgeordnete reserviert - viel zu wenig meinen die Libyerinnen, die die Idee der Gleichberechtigung aus Gaddafi-Zeiten kennen. Abschreckendes Beispiel ist Ägypten, wo nur zwei Prozent Frauen im Parlament sitzen.

Pessimisten warnen vor einem Horrorszenario. Das würde dann eintreten, wenn im Juni zwar 200 Abgeordnete für die parlamentarische Versammlung gewählt würden, diese aber kein einziges gemeinsames Ziel hätten. Denn das einzige einigende Moment, das die verschiedenen Fraktionen zusammengehalten habe, sei der Sturz Muammar Gaddafis gewesen. Manche meinen, dass der Übergangsrat die Wahlen verschieben und an der Macht bleiben will.

Alte Seilschaften

Die Erwartungen der libyschen Bevölkerung sind jedenfalls enorm, das Gremium rund um Mustafa Abdul Jalis hat die hochfliegenden Hoffnungen enttäuscht. Der Bürgerkrieg hat die Infrastruktur in vielen Stadtvierteln zerstört, öffentliche Dienstleistungen wurden eingestellt. Der Wiederaufbau geht vielen zu langsam, man hat zudem gehofft, dass der Korruption das Handwerk gelegt wird.

Während Islamisten, Liberale und Linke beginnen, Parteistrukturen aufzubauen, klebt überall der alte Gaddafi-Geruch in der Luft, wie Kritiker anmerken. So sollen etwa jene Libyer, die über eine Doppelstaatsbürgerschaft verfügen, nicht an den Wahlen im Sommer teilnehmen dürfen. Damit wolle man in alter Manier die Auslandsoppositionellen kaltstellen, heißt es in Benghazi und Tripolis. Auch ist nicht klar, warum man über "ausreichende berufliche Qualifikation" verfügen muss, um bei den Wahlen als Kandidat für das 200-köpfige Parlament antreten zu können. Viele vermuten hinter diesen Bestimmungen einen Trick der alten Gaddafi-Seilschaften, die immer noch funktionieren.

Am vergangenen Samstag war das Maß voll: Demonstranten stürmten das Gebäude des Nationalen Übergangsrates, wo gerade über das neue Wahlgesetz debattiert wurde. Die aufgebrachte Menge warf mit diversen Gegenständen, der Vorsitzende des Übergangsrates musste, von Bodyguards bewacht, das Gebäude verlassen.

Zuvor war sein Stellvertreter, Abdul Hafiz Ghoga, von wütenden Studenten verprügelt und als "Emporkömmling" und "Opportunist" beschimpft worden. Ghoga zeigte sich schockiert, rief seine Landsleute auf, "die Nerven zu bewahren", und trat am Sonntag zurück. Er galt eigentlich als Revolutionär der ersten Stunde.

Der Übergangsrat selbst verfällt unterdessen in einen Reflex, der aus Ägypten und Syrien bekannt ist: Die Drahtzieher der Demonstrationen würden sich im Hintergrund verbergen, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrates Jalil spricht wörtlich von "unsichtbaren Händen". Obskure Kräfte im Ausland werden allerdings noch nicht beschuldigt, hinter den neuen Protesten zu stehen.