Studie zeigt massives Fehlverhalten und Schieflagen bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zwischen den Jahren 1945 und 1989 im Pavillon 15 am Steinhof und in der Rett-Klinik am Rosenhügel.
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Wien. Aus Sicherheitsgründen wurden die Wasserhähne abgedreht. Die einzige Möglichkeit für die Kinder, ihren Durst zu stillen, blieben oftmals die Toiletten. Therapieangebote gab es kaum, stattdessen physischen Freiheitsentzug und sedierende Medikamente, um den Stationsalltag zu vereinfachen, störendes Verhalten zu minimieren. Demütigung, Gewalt, Paternalismus und Entmenschlichung. So lassen sich die Ergebnisse zu den Zuständen der heute im Wiener Rathaus präsentierten Studie "Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der Wiener Psychiatrie von 1945 bis 1989" zusammenfassen.
Insbesondere im Falle des Pavillons 15 könne weder von Pflege noch von Betreuung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung gesprochen werden. Im Gegenteil handle es sich um einen "alles andere als ruhmreichen Abschnitt unserer Geschichte", kommentiert die Wiener Gesundheitsstadträtin Sandra Frauenberger die Ergebnisse der Studie.
Im Auftrag vom Wiener Krankenanstaltverbund (KAV) arbeitete ein fünfköpfiges Forschungsteam die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zwischen 1945 und 1989 in zwei stationären Wiener Einrichtungen, auf: einerseits im "Kinderpavillon", dem Pavillon 15 am Steinhof. Andererseits in der vom Neuropädiater Andreas Rett gegründeten und geleiteten Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder, der sogenannten "Rett-Klinik".
Kinderpavillon als "umfassendes Gewaltsystem"
Ausgangspunkt der Untersuchung waren Vorwürfe über Missstände in der Betreuung von Menschen mit Behinderung. 100 Interviews und die Analyse zahlreicher Dokumente aus dieser Zeit bestätigen diese Vorwürfe nun. Laut Studienleiterin Hemma Mayrhofer wurde beim Pavillon 15 ein "umfassendes Gewaltsystem" sichtbar, das weder von Politik noch von anderen Institutionen kritisiert, sondern als Realität hingenommen wurde.
Ein Gewaltsystem, das weder Unterstützungsleistungen für Betroffene noch für Angehörige vorgesehen hat. Nicht die Therapie der Kinder und Jugendlichen stand im Mittelpunkt, sondern die Regulierung von störendem Verhalten. So gab es kaum ärztliches Personal. Niedrig qualifizierten Pflegekräften wurde die Verantwortung übergeben. Ihren Ausdruck fand diese in erster Linie in der Verabreichung von Sedierungsmedikamenten und der physischen Freiheitsbeschränkung.
Mehrmals fand das Forschungsteam Berichte von kollektiven Sedierungen, entsprechende Beruhigungsmittel wurden ins Essen der Kinder und Jugendlichen gemischt. Der primäre Zweck dieser Maßnahmen war laut Mayrhofer, "das Personal zu entlasten, die Kinder zu regulieren und den Stationsalltag zu vereinfachen".
Zudem berichtete der überwiegende Teil der interviewten Betroffenen von Gewalterfahrungen, von gravierenden Misshandlungen, die weit über Disziplinarmaßnahmen hinausreichten. Von der "Lust am Quälen" ist in der Studie die Rede. Dabei handle es sich jedoch keineswegs um individuelle Verfehlungen des Personals, sondern um systembedingte Gewalt, betont Mayrhofer.
Teil der Tötungsanstalt"Am Spiegelgrund"
Zu diesen menschenunwürdigen Zuständen gesellen sich Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus: Der Pavillon 15 war in der Zeit des Nationalsozialismus Teil der Tötungsanstalt "Am Spiegelgrund". Nach der formellen Auflösung des Spiegelgrundes gab es - mit wenigen Ausnahmen - weder personell noch ideologisch einen Bruch mit der NS-Zeit. So wurden auch Gehirne und Rückenmark der verstorbenen Kinder im Pavillon 15 an Heinrich Gross übermittelt. Eben jener Gross, der an der Ermordung behinderter Kinder am Spiegelgrund maßgeblich beteiligt war.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei der sogenannten "Rett-Klinik". Zuerst im Altersheim Lainz angesiedelt, zog die "Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder" 1975 in das Neurologische Krankenhaus Rosenhügel um. Wie Dokumente zeigen, positionierte sich die Klinik 1956 explizit als "Alternative zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Heil- und Pflegeanstalten" und wollte so weg von einer reinen Verwahrung der Betroffenen, hin zu einer tatsächlichen Förderung Rehabilitation. Dementsprechend war das Angebot an Therapien laut Mayrhofer laut Katja Geiger, eine weitere Studienautorin, vergleichsweise umfangreich.
Doch trotz der Betonung der Studienautoren, dass die "Rett-Klinik" eine Vorreiterrolle im Wandel der österreichischen Behindertenhilfe einnahm, waren die Zustände alles andere als unproblematisch: Tatsächlich profitierten nur wenige Personen von den Therapien. Die Auswahl jener Kinder und Jugendlichen, die behandelt wurden, schien willkürlich zu erfolgen. Sedierende Medikamente fanden auch hier ihre Anwendung - oft in Verbindung mit klinischen Studien und der Testung von Medikamenten. Laut einem Bericht von Andreas Rett selber wurden bis 1985 insgesamt 36 unterschiedliche Psychopharmaka erstmals an den in seiner Klinik untergebrachten Kindern getestet.
UnfreiwilligeSterilisierungen
Neben diesem Experimentieren hatte die Rett-Klinik eine besondere Rolle in der Sterilisierung sowie in der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen bei Mädchen und Frauen mit Behinderungen: Andreas Rett befürwortete diese Praktiken auf Basis
eugenischer Argumente oder schichtspezifischer Vorurteile. "In den Interviews wurde mehrfach davon berichtet, dass die betroffenen Frauen nicht wussten, dass Sterilisierungen an ihnen durchgeführt wurden", erklärt Geiger. Die Eingriffe wurden unter dem Deckmantel einer Blinddarmoperation durchgeführt.
Zwei unterschiedliche Einrichtungen, die jedoch einiges gemein haben: Abwertungen, Ausgrenzungen, Vernachlässigungen, aber auch fehlende Kontrollinstanzen. Eine rechtliche Analyse zeigt, dass das Rechtssystem unterentwickelt, eine anwaltliche Vertretung der Kinder und Jugendlichen nicht vorgesehen war. Und trotzdem sei bereits seit den 50er Jahren klar, dass die Zustände weit entfernt von den damaligen rechtlichen Standards waren.
So heißt es in einem 1953 veröffentlichten Bericht des Jugendamtes nach einem Besuch im Pavillon 15, dass "niemand von uns diesen Zustand verantworten kann". Geändert habe sich trotzdem nichts. Laut dem Rechtsexperten Walter Hammerschick zeigen sich "die Studie Verhaltensweisen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf, die nach der damaligen Rechtslage strafrechtlich relevant sind". Etwaige Vorwürfen wären heute jedoch verjährt.
Im Rahmen der Studie wurde eine Telefonhotline für Betroffene eingerichtet, die unter
01/40409-60030
erreichbar ist.