Vor 400 Jahren nahm Galileo Galilei einen unbekannten Lichtpunkt am Himmel wahr. Er beachtete ihn aber nicht weiter und versäumte so die Entdeckung des Planeten Neptun.
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Florenz, im Jänner 1613: Galileo Galilei richtet sein schlankes Fernrohr zum Himmel. Schon hat er damit Berge und Täler auf der Oberfläche des Mondes entdeckt und die Lichtphasen der Venus. All das verwandelt er in Argumente für die höchst umstrittene kopernikanische Lehre. Nun studiert er wieder die vier Jupitermonde, die er drei Jahre zuvor erstmals erblickte. Das Stellungsspiel des Mondquartetts kann Galilei mittlerweile vorher berechnen. Es soll als "Himmelsuhr" dienen, die Seefahrern eine Standortbestimmung fern der Küsten ermöglicht. Um seine Tafeln der Jupitermondbewegungen zu überprüfen, visiert Galilei den Planeten immer wieder an.
Im Gegensatz zu den Fixsternen ziehen Planeten langsam durch den Tierkreis. Mit 18-facher Vergrößerung sieht der Gelehrte, wie sich Jupiter durch das Sternbild Jungfrau bewegt. Am 28. Jänner 1613 bildet er mit zwei Lichtpünktchen eine gerade Linie. Doch seltsam: Der gegenseitige Abstand dieser beiden mutmaßlichen Fixsterne ist ihm vergangene Nacht etwas größer vorgekommen. Hat er sich da etwa getäuscht? Der Italiener trägt den Anblick in sein Tagebuch ein.
Vielleicht vereiteln Wetterkapriolen die weitere Beobachtung. Jedenfalls schenkt Galilei dem schrumpfenden Abstand der beiden schwachen Lichter keine Beachtung mehr. So entgleitet ihm eine atemberaubende Entdeckung. Tatsächlich ist der unterste Lichtpunkt nämlich kein Fixstern, sondern ein noch unbekannter Planet! Damals umfasst der planetare Reigen nur Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Als Kopernikaner zählt Galilei auch die Erde hinzu; er darf dies, denn noch ist die kopernikanische Hypothese nicht verboten! Mit dem fernen Saturn endet die Reihe in jedem Fall. Dahinter wähnt man die Fixsternsphäre.
Die verpatzte Chance
Galilei strebt danach, Neues am Himmel zu entdecken. Hätte er den blassen Lichtpunkt als Planeten erkannt, wäre er in Jubel ausgebrochen. Angesichts der überaus langsamen Bewegung hätte man den Fund weit jenseits des Saturns ansiedeln müssen. Wie Keplers drittes Planetengesetz ein paar Jahre später gezeigt hätte, ist er sogar dreimal weiter entfernt als Saturn. Die Kopernikaner glauben an einen sehr ausladenden Kosmos, anders als die Anhänger des traditionellen, erdzentrierten Weltbilds. Ein dermaßen ferner Planet wäre Galilei gerade recht gekommen.
Wie würde er die neue Welt benannt haben? Die Jupitermonde schenkte er ja den Medici, die ihn postwendend zum Hofphilosophen kürten (die Mondnamen "Io", "Europa", "Ganymed" und "Kallisto" wurden erst später gebräuchlich). Hätte sich Galilei jetzt bei seinem Patron, dem toskanischen Großherzog Cosimo II., mit einem Planeten namens "Cosimo" bedankt? Oder hätte er den Stern Papst Paul V. gewidmet?
Der verpatzten Entdeckung wegen bleibt Saturn bis 1781 der Außenposten des Planetensystems. Erst dann stößt der Musiker und Astronom Wilhelm Herschel mit seinem Teleskop auf ein winziges, grünliches Scheibchen. Dieser siebente Planet verdoppelt den Durchmesser des Sonnensystems; es reicht jetzt nicht neuneinhalb, sondern 19 Erdbahnradien ins All hinaus. Johann Elert Bode schlägt den Namen "Uranus" vor, nach dem griechischen Himmelsgott. Bode stöbert außerdem ältere Beobachtungen auf, bei denen Uranus fälschlich für einen Fixstern gehalten wurde. So trug ihn John Flamsteed 1690 als "34 Tauri" in seinen neuen Himmelsatlas ein, als Stern Nummer 34 im Stier.
Widersprüche
Doch die alten und die neuen Beobachtungen passen nicht widerspruchsfrei zusammen. Das bemerkt zunächst Alexis Bouvard, der Direktor des Pariser Observatoriums. Es scheint, als wäre Uranus in den Jahrzehnten vor 1821 eine Spur schneller, danach jedoch etwas langsamer als berechnet um die Sonne gezogen. Sollte Isaac Newtons Gravitationsgesetz dort draußen, drei Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt, nicht mehr exakt gelten?
Bouvard spekuliert lieber mit der störenden Anziehungskraft eines weiteren Planeten hinter dem Uranus. In Cambridge, wo Newton 1687 sein Gravitationsgesetz formuliert hatte, versucht John Couch Adams die Bahn des Störenfrieds zu ermitteln. Der schüchterne Engländer wird seine Kalkulation mehrmals revidieren, was sie nicht überzeugend macht.
Eines ist klar: Die störende achte Welt müsste ihrer enormen Distanz wegen äußerst lichtschwach sein. Sie erschiene im Teleskop fast so punktförmig wie ein Fixstern. Verraten sollte sie sich durch ihr träges Dahinschreiten. Doch noch fehlen verlässliche Vergleichskarten, die ähnliche schwache Fixsterne erfassen.
Um den gesuchten Planeten zu identifizieren, müsste der ganze fragliche Himmelsabschnitt also zweimal kartiert werden. Was sich zwischen der ersten und der zweiten Durchmusterung bewegt hätte, wäre verdächtig. Im Juli 1846 macht sich James Challis an die Arbeit, der Direktor der Universitätssternwarte von Cambridge. Wegen der Unsicherheiten in Adams’ Prognose sucht er ein sehr weites Himmelsareal ab.
Mittlerweile hat auch der selbstsichere französische Mathematiker Urbain Leverrier seine Berechnung vorgelegt: Als die Pariser Sternwarte zögert, eine großangelegte Himmelsfahndung einzuleiten, erinnert er sich an den Deutschen Johann Gottfried Galle. Der hatte ihm einst seine Doktorarbeit zugeschickt. Sie befasste sich mit Olaus Römer, der die Lichtgeschwindigkeit aus dem Stellungsspiel der Jupitermonde abgeleitet hatte. Jetzt wendet sich Leverrier brieflich an Galle. Er bittet ihn, das Fernrohr der Berliner Warte auf die von ihm vorausgesagte Himmelsstelle zu richten. Galle erhält das Ansuchen am 23. September 1846 und empfindet "eine gewisse moralische Verpflichtung", ihm nachzukommen.
Der endgültige Beweis
Sein Chef, Direktor Johann Franz Encke, ist skeptisch. Weil er aber gerade den 55. Geburtstag feiert, darf Galle das große Linsenteleskop noch in derselben Nacht zur Planetensuche nutzen. Der junge Heinrich Louis d’Arrest hat eine zündende Idee: Die Berliner Akademie gibt gerade brandneue Himmelskarten heraus. Sie halten auch blasse Sternchen fest und könnten daher zum sofortigen Vergleich dienen. Enckes Mitarbeiter Carl Bremiker hat einige dieser Blätter "mit ungemeiner Sorgfalt und Genauigkeit" gezeichnet. Im Handel ist das Blatt mit der betreffenden Himmelsregion noch nicht erhältlich; in Enckes Vorzimmer liegt es bereits.
Die Grenzzone zwischen den Sternbildern Steinbock und Wassermann hebt sich nur wenig über den Berliner Horizont. Dennoch gibt Galle nach und nach die Positionen der dort im Teleskop auftauchenden Sterne durch. Heinrich d’Arrest vergleicht sie mit Bremikers Karte. Nach einer Stunde Suche herrscht plötzlich Hochspannung: Ein Lichtpunkt ist tatsächlich nicht auf dem Blatt!
Der nächste Abend bringt Gewissheit. Das verdächtige Objekt hat sich mittlerweile in äußerst gemächlichem Tempo zwischen den Fixsternen weitergeschoben. Kein Zweifel: Das ist Leverriers Planet! Bald wird er auch in Göttingen, Hamburg, Altona, London, Turin und Liverpool anvisiert. Leverrier tauft ihn "Neptun", nach dem römischen Gewässergott.
Wieder fahndet man nach früheren Sichtungen. Die ältesten finden sich in Galileis Tagebuch. Der Italiener sah den Neptun in Wahrheit schon am 28. Dezember 1612. Da trug er ihn erstmals nichtsahnend unter der Bezeichnung "fixa" (lateinisch: fixa stella, Fixstern) ins Tagebuch ein. Einen Monat lang schimmerte der vermeintliche Fixstern dann im engen Bildfeld von Galileis Fernrohr - gemeinsam mit dem 10.000-mal helleren Jupiter und dessen rührigem Mondquartett.
Alles war in Bewegung, und außerdem verstellten meist Wolken den Blick. Doch als die wandelnden Gestirne Ende Jänner an einem wirklichen Fixstern vorbei zogen, verspielte Galilei eine große Chance. Es wäre sein letzter großer Himmelsfund geworden.
Ein blauer Gasriese
Tatsächlich genügt ein modernes Fernglas, um Neptun zu erspähen. Hobbyteleskope ab etwa 10 cm Durchmesser lassen sogar seine Kugelgestalt erahnen - und einen bläulichen Teint, der vortrefflich zum Gestirn einer Meeresgottheit passt: dafür zeichnet das Methan in der Neptunatmosphäre verantwortlich. Hinter Neptun kreisen nur noch Zwergwelten, die von Eris und Pluto angeführt werden; selbst die sind nicht einmal 2400 km groß. Hingegen überragt Neptun die Erde fast ums Vierfache. So bildet er den fernsten Himmelskörper im Sonnensystem, den man ohne großen Aufwand mit eigenen Augen sehen kann.
Die besten Neptun-Porträts stammen von der NASA-Sonde Voyager 2, die 1989 an ihm vorbei raste. Das Sonnenlicht langt dort mit einem Promille der uns vertrauten Kraft ein. Ein Sonnenumlauf dauert 165 Jahre. Daher währt jede Jahreszeit vier Jahrzehnte. Auf Neptuns Südhalbkugel ist jetzt Sommer. Über dem südlichen Pol geht die Sonne 82 Jahre lang nicht unter, über dem Nordpol ebenso lang nicht auf. Am Äquator wechseln Tag und Nacht einander alle acht Stunden ab. Die resultierenden Temperaturunterschiede tragen zu Neptuns kräftigen Stürmen bei. Nirgendwo sonst im Sonnensystem misst man Windgeschwindigkeiten von 2000 km/h und mehr.
Über Neptuns kaum erdgroßen Kern aus Silikaten und Eis spannt sich ein Mantel aus Wasser, Ammoniak und Methan. Wasserstoff und Helium dominieren die Atmosphäre. Eine feste Oberfläche kennt dieser Planet nicht - ein Faktum, das Galileo Galilei sicher verblüfft hätte.
Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 1991 für die "Wiener Zeitung" als Fachjournalist für astronomische Themen. Internet: www.himmelszelt.at