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Die große Explosion von 1908 kann nicht befriedigend erklärt werden.
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Natürlich war es ein außerirdisches Raumschiff, das da am 30. Juni 1908 in Sibirien über der Tunguska in der heutigen Region Krasnojarsk explodiert ist. Rund 900 Lichtjahre, also so ungefähr 8100 Billionen Kilometer, ist es von einem Wurmloch zum nächsten gehüpft, hat den Raum erfolgreich gefaltet - und dann das: Knall, bumm, explodiert. Wie elf Jahre zuvor im texanischen Aurora. Wie 39 Jahre später in Roswell, New Mexico. Wie 1996 im brasilianischen Varghina. Entweder sind diese Außerirdischen miserable Piloten, oder ihre Fluggeräte sind Schrott. Oder die Erde ist für die UFOs so etwas wie das Bermuda-Dreieck für die Schifffahrt, nur mit dem Unterschied, dass die terrestrischen Gefahren für die Außerirdischen real sind. Kann man da noch halbwegs ernsthaft weiterdiskutieren?
Man kann es versuchen, wenngleich es das Buch "Tunguska - Das Rätsel ist gelöst?" von Angelika Jubelt schon etwas schwierig macht - und das keineswegs nur wegen einer kuriosen Anhäufung von Rechtschreibfehlern. Wenigstens listet Angelika Jubelt säuberlich alle Thesen zum Ereignis auf. Und dann landet sie doch wieder beim außerirdischen Raumschiff. Es ist wie verhext - oder eher "veralient".
Damit keine Zweifel aufkommen: Ja, das Tunguska-Ereignis gab es. Ja, es ist eine seltsame Angelegenheit. Ja, die Wissenschaft hat bis jetzt keine abschließende Erklärung, in der alle offenen Fragen gelöst werden.
Halten wir uns an die Fakten: An jenem 30. Juni 1908 kommt es um 7.15 Uhr, 65 Kilometer entfernt von Wanawara, in der Nähe des Flusses "Steinige Tunguska" zu einer gewaltigen Explosion. Bis in 30 Kilometer Entfernung werden Bäume entwurzelt oder umgeknickt, in Wanawara werden Türen und Fenster eingedrückt. In mehr als 500 Kilometer Entfernung merken die Passagiere der Transsibirischen Eisenbahn die Erschütterung. Das Gebiet des Ereignisses ist aber so dünn besiedelt, dass die Zahl der Todesopfer gering ist - obendrein kümmern sich die Russen nicht viel um die Opfer unter den in verstreuten Siedlungen ansässigen Ewenken, die der Welt zwar das Wort "Schamane" (ewenkisch "saman") geschenkt haben, aber eben keine Russen sind.
Die Sprengkraft, die notwendig ist, um derartige Zerstörungen auszulösen, schätzen Experten auf mindestens 10 bis 15 Megatonnen TNT. Das entspricht etwa der 1150-fachen Sprengkraft der über Hiroshima gezündeten Atombombe. Manche Schätzungen sprechen gar von bis zu 50 Megatonnen TNT.
1908 haben die russischen Machthaber in St. Petersburg andere Sorgen als den Knall über der weit entfernten Tunguska: Die Kriegsgefahr ist wegen der Bosnischen Annexionskrise - ausgelöst, als Österreich mit Billigung Russlands die osmanischen Balkanprovinzen Bosnien und Herzegowina annektiert und die Türkei mit Krieg droht - gestiegen, obendrein nehmen die zarenfeindlichen innerrussischen Querelen zu. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution denkt dann wohl auch niemand mehr an das Geschehen in der Tunguska-Region.
Beginn der Spekulationen
Erst 1921 bricht der russische Mineraloge Leonid Alexejewitsch Kulik (1883-1942) zur ersten Expedition zur Untersuchung des Tunguska-Vorfalls auf, zweifellos in der Hoffnung, Überreste eines Meteoriten zu finden. Allerdings stößt Kulik erst bei seiner zweiten Expedition 1927 in das nähere Gebiet der Explosion vor. Zu seiner Überraschung findet er weder Trümmer eines Meteoriten noch einen Einschlagskrater.
Damit beginnen die Spekulationen: Ein Komet könnte in Bodennähe explodiert sein - da er im Wesentlichen nur aus Wasser, Trockeneis und Methan besteht, gäbe es keine Überreste. Es könnte auch ein Steinkomet von so geringer Dichte gewesen sein, dass die Überreste praktisch aus Staub bestünden. Diese Theorien klingen plausibel und finden auch heute noch Vertreter.
Die Außerirdischen bringt kein Wissenschafter ins Spiel, sondern der Science-Fiction-Autor Alexander Petrowitsch Kasanzew (1906- 2002), der auch die Theorie vom Schachspiel als Kunst entwirft und von "Schachkomposition" spricht. 1946 veröffentlicht Kasanzew in der ersten Nummer der Zeitschrift "Um die Welt" seine Kurzgeschichte "Die Explosion", in der er ein havariertes Raumschiff als Erklärung für die Explosion anbietet. Die Geschichte ist geschickt geschrieben, indem sie Fakten, real existierende Personen und reine Fiktion kombiniert.
Der durchaus seriöse Kosmo-Chemiker E. L. Krinow ermöglicht Kasanzew, seine Erzählung öffentlich zu diskutieren. Solche öffentlichen und halb-öffentlichen Diskussionen von Kunstwerken, aber auch neuen Theorien (wenn es nur keine politischen waren) stehen in der Sowjetunion auf der Tagesordnung. Bei dieser Erzählung scheinen sich aber Fakten und Fiktion vermehrt zu vermischen, vermutlich glaubt Kasanzew irgendwann selbst an seine Raumschiff-These.
Die Politik speit Gift und Galle - und zwar in einem Ausmaß, dass man fast glauben könnte, die Machthaber räumten einer außerirdischen Ursache für das Ereignis doch eine gewisse Chance ein. Zumindest gehen die Verschwörungstheoretiker davon aus. In einem Punkt haben sie sogar recht: Verschwörungen zur Unterdrückung abweichender Meinungen, auch wenn sie korrekt waren, gab es in der Sowjetunion zuhauf.
Nach deren Zerfall ist die Denkfreiheit in der Tunguska-Sache freilich Dünger für die seltsamsten Blüten. Sogar ernsthafte Wissenschafter wie der Kosmologie-Dozent Felix Jurjewitsch Sigel (1920-1988) plädieren für eine außerirdische Ursache. Jedoch ist Sigel schon lange zuvor auf UFO-Abwege geraten: 1967 hat er die erste UFO-Untersuchungsgruppe der Sowjetunion formiert. Seine einschlägigen Forschungen musste er oft im Verborgenen betreiben, denn offiziell wollte man dort von UFOs nichts wissen.
Wahrscheinlich ein Bolide
Während Sigel immerhin versucht, wissenschaftliche Kriterien an das UFO-Phänomen und das Tunguska-Ereignis anzulegen, bricht eine Gruppe um einen gewissen Jurij D. Lawbin, dessen wissenschaftlichen Hintergrund, so er überhaupt einen hat, niemand zu kennen scheint, in die Tunguska-Region mit dem erklärten Ziel auf, Reste eines außerirdischen Raumschiffs zu finden. Und man findet. Zumindest behauptet es Lawbin. Weshalb er seine Funde bis heute nicht zur wissenschaftlichen Untersuchung vorlegt, mag sein Geheimnis bleiben.
Während Lawbin kurzzeitig großes Aufsehen erregt, geht eine wesentlich interessantere Meldung nahezu unter: 2007 veröffentlicht der italienische Meeresgeologe Luca Gasperini seine Erkenntnis, dass es sich beim Tscheko-See um einen Krater-See handelt. Der See liegt ungefähr acht Kilometer nördlich vom Zentrum des Tunguska-Ereignisses. Dass er vom Bruchstück eines größeren Boliden stammt und dass es dieser Bolide war, der das Tunguska-Ereignis verursachte, ist äußerst wahrscheinlich.
Damit ist die immerhin noch wissenschaftlich relevante These eines Erdgas-Ausbruchs ebenso vom Tisch wie die kuriosen Ideen von einem explodierenden Mückenschwarm, einer auf Zeitreise gegangenen Atombombe oder eines Experiments des kroatischen Elektroingenieurs und Erfinders Nikola Tesla.
Nur die UFO-Theorie hält sich hartnäckig, was Angelika Jubelt beweist. Ihre Lösung sieht so aus: Ein riesiger weltvernichtender Bolide rast auf die Erde zu. Die Außerirdischen sind gut zu den Erdlingen, jagen ihm mit einem Raumschiff nach, zerschießen ihn in Stücke. Eines davon trifft leider das Raumschiff, weshalb dieses havariert und explodiert. Weshalb das Raumschiff explodieren muss und nicht einfach nach erfolgter Erdrettung abdrehen kann? - Weil Jurij Lawbin in diesem Fall keine UFO-Trümmer haben kann.
Andererseits hat diese These auch etwas für sich: Man braucht lediglich "physikalische oder chemische Vorgänge im Kometenkern" an die Stelle von "UFO" zu setzen und die Verfolgungsjagd wegzulassen, und schon kommt man den wahrscheinlichen Vorgängen sehr, sehr nahe.