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Ein ungerechtes Urteil

Von Hermann Schlösser

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Am vergangenen Dienstag hörte ich in "Radio Stephansdom" das Reqiuem von Verdi. Die Aufnahme stammte aus den sechziger Jahren und war, wie man gerne sagt, "hochkarätig besetzt": Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Nicolai Gedda und Nicolai Ghiaurov waren als Solisten zu hören. Das Philharmonia Orchester London spielte, der Philharmonia Chorus sang, Dirigent des Ganzen war Carlo Maria Giulini. Chor und Orchester waren von höchster Präzision und Präsenz, die Solisten und Solistinnen verbanden sich zu einem Quartett von feinster Stimmkultur. Und trotzdem war ich mit dem Abend nicht ganz und gar zufrieden. Vielleicht lag es daran, dass die Tempi manchmal gar zu getragen waren, was den hinreißenden Schwung dieser italienischen Totenmesse zu sehr dämpfte.

Vielleicht rührt meine Enttäuschung aber auch daher, dass ich die Aufnahme ständig mit einer anderen verglich: zu Beginn des heurigen Verdi-Jahres dirigierte Claudio Abbado dasselbe Stück in Berlin, und von dieser Aufführung war ich so bewegt, dass die Aufnahme am Dienstag dagegen abfallen musste. Nun wurde Abbados Requiem damals im Fernsehen gesendet, und der Anblick des von schwerer Krankheit gezeichneten Dirigenten war so berührend, dass er sich vom musikalischen Eindruck nicht trennen ließ. Ein singuläres Konzert wurde also damals im Fernsehen übertragen, und es ist ganz und gar ungerecht, wenn man einen Rundfunkabend damit vergleicht. Trotzdem tut man's - ungerecht, wie man in Kunstdingen gerne ist.