Zum Hauptinhalt springen

Ein Urteil als Warnung

Von WZ-Korrespondent Wu Gang

Politik

Chinas Regierung sieht Intellektuelle als Gefahr für die Systemstabilität an.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Peking. 2009 wurde der chinesische Schriftsteller und spätere Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo wegen "Untergrabung der Staatsgewalt" zu elf Jahren Haft verurteilt. Es ist wohl kein Zufall, dass ein Gericht des Pekinger Vorortes Huairou am Freitag exakt dieselbe Strafe über seinen Schwager Liu Hui verhängt hat. Somit wurde dessen Berufungsantrag gegen die Verurteilung wegen Betruges endgültig abgelehnt. Neben der Haftstrafe verurteilte der Richter den 43-Jährigen zu einer zweijährigen Aussetzung seiner politischen Rechte und einer Geldstrafe von umgerechnet 1200 Euro. Die Anklage basierte auf den Angaben eines Geschäftspartners jener Investmentfirma, für die Liu Hui gearbeitet hatte, wobei es um eine Zahlung von 367.000 Euro geht. Sein Anwalt Mo Shaoping hält das Urteil für "ungerecht" und weist darauf hin, dass der Fall "in Wahrheit ein zivilrechtlicher Streit" sei.

Ausländische Diplomaten kritisierten das Urteil ebenfalls, durften jedoch nicht an dem Prozess teilnehmen, der unter strengen Sicherheitsvorkehrungen stattfand. Allerdings wurde Liu Xia, die unter Hausarrest stehende Ehefrau des inhaftierten Nobelpreisträgers aufgefordert, dem Prozess zu folgen. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie nicht an der Verhandlung teilnehmen, da sie auf dem Weg ins Gericht "Probleme mit dem Herzen" bekommen hatte, wie ein europäischer Diplomat sagte. Er äußerte vor Journalisten weiters die Vermutung: "Indem Liu Xia am Prozess teilnehmen durfte, sollte ihr demonstriert werden, was mit ihrer Familie passieren kann."

Beobachter führen die Verurteilung ihres Bruders auch auf einen Vorfall im Frühjahr zurück, als es Aktivisten und Journalisten gelungen war, sich an den Wachen vor ihrem Haus in Peking vorbeizuschleichen - ein Affront für die Behörden. Das Urteil gegen Liu Hui kommt daher nicht überraschend. Es folgt eher einem Muster, das sich seit dem Amtsantritt von Staatspräsident Xi Jinping im März immer deutlicher abzeichnet. Zu beobachten sind zum einen ein verstärktes Vorgehen gegen Intellektuelle, zum anderen geraten auch deren Familienangehörige und Freunde immer stärker ins Visier der Sicherheitsbehörden.

Seit dem Frühjahr 2011 und den kaum über den Untergrund hinausgekommenen "Jasmin-Protesten" habe China nicht mehr eine solche Verfolgungswelle erlebt, sagt der Menschenrechtsforscher Nicholas Bequelin von der Organisation Human Rights Watch. 24 Bürgerrechtler seien in diesem Jahr bereits verhaftet worden, womit der neue Präsident die Politik seiner Vorgänger fortsetze: "Kritiker, Bürgerrechtler und Zivilgesellschaft gelten als Faktoren für Instabilität." Einzelne Chinesen könnten die Behörden zwar kritisieren, dürften sich aber nicht mit Gleichgesinnten zusammenschließen. "Formelle Organisationen werden systematisch unterdrückt", so der Forscher.

Sowjetunion als Menetekel

Das kompromisslose Vorgehen gegen Kritiker und Intellektuelle rechtfertigte Parteichef Xi selbst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991, der bei ihm offensichtlich einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Wiederholt warnte er seine Genossen vor einer Kernschmelze des Systems, die durch Korruption einerseits und Unruhen in der Öffentlichkeit andererseits befeuert werden könnte, so wie es einst in der Sowjetunion mit Glasnost und Perestroika geschah. Ein Kommentar der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua warf Kritikern daher vor kurzem vor, "mit Gerüchten und Negativmeldungen täglich den bevorstehenden Kollaps in China" herbeireden zu wollen und warnte: "Falls es in China zum Chaos kommt, würde es ungleich grausamer als in der Sowjetunion ausgehen." Eine Demokratisierung müsse unweigerlich mit einem Kollaps und einer katastrophalen Armut enden, so die Schlussfolgerung der Analyse.

Dieser Logik, wonach kritischer Dissens zum Wohle des Staates unterdrückt werden müsse, folgt auch die aktuelle Kampagne, deren bisher prominentestes Opfer der Jurist und Uni-Dozent Xu Zhiyong war. Chinas "Esquire" nannte den 40-Jährigen noch im August als eines von 60 Vorbildern für engagierte Bürger, doch beim Erscheinen des Magazins war er bereits verhaftet. Der Kopf der "Bewegung der neuen Bürger" hätte "Versammlungen zur Störung der öffentlichen Ordnung" geplant, so der Vorwurf. Beinahe zeitgleich wurde der 45-jährige Yang Lin, der vor allem das Einparteiensystem kritisiert hatte, wegen "staatsgefährdender Hetze" festgenommen. Und auch Chen Guangfu, der Bruder des blinden Aktivisten Chen Guangcheng findet seit dessen Ausreise in die USA keine ruhige Minute mehr: Er wird von patriotischen Schlägertrupps systematisch terrorisiert.