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Ein Urteil, keine Lösung

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

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Boris Johnson steht vor dem Scherbenhaufen seiner Brexit-Strategie. Das Oberste Gericht Großbritanniens versuchte erst gar nicht, sein Urteil in juristische Floskeln zu kleiden. Das Verdikt der elf Richter fiel einstimmig aus, und seine Klarheit kommt einer Abrechnung gleich.

"Die Entscheidung, Ihrer Majestät zu empfehlen, das Parlament zu vertagen", so Gerichtspräsidentin Lady Brenda Hale, "war gesetzwidrig, weil sie ohne einsichtige Begründung bewirkte, die Möglichkeiten des Parlaments, seine verfassungsrechtlichen Aufgaben zu erfüllen, zu be- oder zu verhindern." Konsequenterweise wurde die Zwangspause für unwirksam erklärt. Die Abgeordneten werden bereits am Mittwoch wieder zusammenkommen, und ihre Kampflust gegen die Regierung ist mit Sicherheit nicht kleiner geworden.

Unter normalen Umständen müsste Johnson zurücktreten. Er hat die Queen für seine politische Zwecke missbraucht - in Großbritannien eine Todsünde. Aber Großbritannien durchlebt keine normalen Umstände. Das Brexit-Referendum hat ein über Jahrhunderte funktionierendes Regierungssystem an den Rand des Kollapses gebracht. Und möglicherweise darüber hinaus.

Das Oberste Gericht hat im Machtkampf zwischen der Exekutive und dem Parlament die Stellung der Volksvertretung gestärkt. Der Brexit kann nicht - besser: soll nicht - gegen den Willen der Abgeordneten durchgezogen werden.

Ob sich Johnson daran hält, ist offen. Er beharrt auf einem EU-Austritt mit 31. Oktober - mit oder ohne Austrittsabkommen. Dem steht jedoch ein Gesetz entgegen, das die Regierung verpflichtet, bei der EU um eine Verlängerung anzusuchen, wenn es bis
19. Oktober keine Einigung auf einen Austrittsvertrag gibt.

Die Situation in London ist hoffnungslos verfahren. Und egal, wie das Ringen um den Brexit ausgehen wird, ein großer Teil des Landes wird sich als Verlierer fühlen, hintergangen von den "Gewinnern". Johnsons Strategie sind Neuwahlen noch im Oktober, bei denen er - dank der inferioren Labour-Opposition - intakte Chancen auf den Sieg hat. Und dies, obwohl Johnson bisher nie den Anforderungen des Amtes gewachsen war. Stattdessen agiert er weiter wie ein Brexit-Aktivist.

In Brechts "Leben des Galilei" klagt ein Gefährte des vor Gericht stehenden Genies nach dessen Widerruf: "Unglücklich das Land, das keine Helden hat." Worauf Galileo antwortet: "Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat." Großbritannien wäre schon mit einer Handvoll integrer und auf Ausgleich bedachter Politiker gedient. Nicht Richter, nur Politiker werden den Brexit-Streit lösen können.