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Ein Vermittler außer Dienst

Von Martyna Czarnowska

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Nicht die Türkei bildet derzeit die Brücke zwischen Westen und Osten, sondern das Verlangen der Menschen nach mehr Freiheit.


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Die Türkei hat es geschafft. Es ist ihr gelungen, sich von einem verfallenden Sultansreich in eine Republik umzuwandeln, eine Militärdiktatur zu überwinden, sich zu demokratisieren, Reformen durchzuführen, sich am Westen zu orientieren ohne die Traditionen des Ostens völlig aufzugeben. Sie kann als Modell dienen für jene orientalischen Länder, in denen die Menschen nun um mehr Freiheiten ringen.

Das ist die Sichtweise, die der Regierung in Ankara gefällt. Seit einiger Zeit schon bemüht sich die Türkei, ihre Rolle des Mediators zwischen Ost und West zu betonen. Nicht zuletzt der Europäischen Union will sie vermitteln: Wer, wenn nicht wir, kann eine Brücke schlagen zu einer Kultur, zu der ihr im Westen so wenig Zugang habt? Wer, wenn nicht wir, die ein islamisches Land aber ein laizistischer Staat sind, kann Ländern wie Ägypten ein Vorbild sein beim Aufbau der Demokratie?

Was bei dieser Argumentation nicht berücksichtigt wird, sind die enormen Unterschiede in der Entwicklung der Länder. Die Orientierung nach Westen begann in der Türkei nicht mit einer Revolution, die von weiten Teilen der Bevölkerung getragen war, sondern mit der Vision einer elitären Gruppe rund um Republiksgründer Kemal Mustafa Atatürk. Um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft bemühte sie sich bereits zu einem Zeitpunkt, als die nordafrikanischen Länder sich gerade von ihren Kolonialherrschaften befreit hatten und damit beschäftigt waren, eigene Staatswesen aufzubauen. Die Machtverhältnisse verschoben sich unterschiedlich; die Parteiensysteme entwickelten sich anders.

So kann die konservative türkische Regierungspartei AKP auch nicht potenziellen Regierungsparteien in anderen Ländern als Orientierung dienen - selbst wenn sie ihre islamischen Wurzeln nicht daran gehindert haben, Reformen einzuleiten, die das Land demokratischer gemacht haben. Eines ihrer wichtigsten außenpolitischen Ziele, die Annäherung an die EU, ist in anderen Staaten ebenso wenig ein Thema.

Auch ringt die Türkei selbst mit Demokratiedefiziten. Die Millionen Kurden des Landes müssen ihre kulturellen Rechte einfordern, Frauen haben trotz gesetzlicher Gleichstellung noch immer um ihren vollwertigen Platz in der Gesellschaft zu kämpfen, der politische Einfluss des Militärs wird nur mit Mühe zurückgedrängt, Rückschläge bei der Meinungs- und Medienfreiheit gibt es immer wieder.

Was aber viele Menschen in der Türkei mit jenen in Ägypten oder Tunesien verbindet, ist die Sehnsucht nach mehr Freiheit. Nach der Möglichkeit, die eigene Meinung sagen oder schreiben zu dürfen, mehr als nur eine - noch dazu autoritäre - Partei ins Parlament wählen zu können und nicht zuletzt das bisschen Wohlstand aufbauen zu können, der es erlaubt, nicht jeden Tag ums Überleben kämpfen zu müssen.

Und das wiederum ist die Brücke zum Westen: Die Menschen fordern jene Rechte ein, die die Europäer einst eingefordert haben. Demokratie verbinden sie auch mit mehr Freiheiten und einem selbstbestimmteren Leben. Die Vorstellungen davon sind - vor allem unter jungen Leuten - gar nicht unähnlich, geprägt vom länderübergreifenden Fernsehen und Internet. So ist es auch die Konsumgesellschaft, an der die Menschen teilhaben wollen.

Dennoch war der Westen völlig überrumpelt, als die Menschen in Ägypten oder Tunesien den Ruf nach mehr Freiheit erhoben, und das ohne Zutun des Auslands. Doch hat das nichts mit einer überraschenden Situation zu tun, sondern mit einer Haltung. Es zeigt lediglich, wie der Westen andere unterschätzt.