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Der Übersetzer Alexander Nitzberg erläutert Leben und Werk des russischen Terroristen und Autors Boris Sawinkow (1879-1925).
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"Wiener Zeitung": Herr Nitzberg, Boris Sawinkow war in jüngeren Jahren ein sozialrevolutionärer Terrorist, später ein konterrevolutionärer Soldat. Außerdem war er ein sehr begabter Schriftsteller. Sie sind der Übersetzer seiner Romane "Das fahle Pferd" und "Das schwarze Pferd", die diese beiden kämpferischen Episoden seines Lebens beschreiben. Was fasziniert Sie an den gewaltverherrlichenden Texten und deren Autor?
Alexander Nitzberg: Sawinkow ist für mich zuerst ein Dichter, und dann ein Terrorist. Seine Gewaltverherrlichung kann man in Frage stellen.
Er war der Chef des terroristischen Arms der russischen Sozialrevolutionäre.
Ja, aber seine Attentate sind nicht genau so verlaufen wie er sie beschreibt, sondern nur ähnlich. Und ich glaube, dass Sawinkow als Autor mit diesem Unterschied ganz bewusst spielt. Er setzt eine Maske auf, die ihm zwar durchaus ähnlich sieht, aber trotzdem eine Maske ist. Das ist ein sehr modernistischer Kunstgriff. Ich habe auch ein Theaterstück von Majakowski übersetzt, das den Titel "Die Tragödie Wladimir Majakowskis" trägt. Die Hauptfigur ist ein 20 Jahre alter Dichter mit Namen Majakowski. Wenn man aber jetzt meint, er schreibe hier über sich selbst, ist man auf dem Holzweg. Diese Art, über sich selbst zu schreiben, ohne sich zu meinen, ist möglicherweise die stärkste Form der Fiktion. Das ist bei Sawinkow ähnlich, er legt dem Übeltäter, der im Roman den Namen George O’Brian trägt, Worte und Gedanken in den Mund, die er selbst vielleicht niemals denken würde. Für mich ist das vor allem ein künstlerischer Prozess, und die Frage nach seinen tatsächlichen Missetaten muss man meiner Ansicht nach ganz neu aufrollen. Es ist nicht erwiesen, dass er mit eigenen Händen Menschen umgebracht hat.
Er war der Stratege im Hintergrund. Das ist auch fragwürdig.
Heute! Für uns gibt es für Terror keine Entschuldigung. Auch wer Anschläge nur plant wie Sawinkow, ist in unseren Augen mitschuldig. Aber ich glaube, dass er selbst das Planen von Attentaten und Terrorakten wie eine schöne Kunst genossen hat.
Sehen Sie ihn sozusagen als einen Dandy des Terrorismus?
Er schlüpfte mit Lust in verschiedene Charaktere und Identitäten. Im Grunde genommen arbeitete er wie einer, der einen komplexen Krimi schreibt. Nur, dass sein Krimi nicht auf dem Papier stattfand, sondern in der Wirklichkeit. Und ich frage jetzt einmal etwas provokant: Ist das nicht etwas, wovon jeder Krimiautor träumt? Und hat die europäische Avantgarde etwa nicht gefordert, dass das "Wort Fleisch" werden soll? Sawinkow hat dieser Forderung entsprochen. Keine Frage, dass es gefährlich wird, wenn die Grenze zwischen Kunst und Leben eingerissen wird. Aber zugleich ist es höchst interessant.
Die Titel der beiden Romane beziehen sich auf die apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung des Johannes. Zeigt sich der Erzähler selbst als ein solcher Reiter, oder sieht er sich als Opfer des Geschehens?
Ich glaube, im "fahlen Pferd" sieht er sich als Vollstrecker der Apokalypse, auch wenn er das niemals direkt sagt. Er deutet es aber an, und am Schluss des Romans gewinnt der Hauptheld durchaus dämonische Züge. Er sieht sich als ein Wesen, das völlig über den Dingen steht, und zum Beispiel auch keinerlei Angst vor dem eigenen Tod hat.
Der historische Sawinkow, der als Sozialrevolutionär begonnen hat, war 1917 kurzzeitig stellvertretender Kriegsminister in der Regierung Kerenski, und hat dann im Bürgerkrieg als Offizier gegen die Bolschewiken gekämpft. Davon handelt der zweite Roman, "Das schwarze Pferd". Das westeuropäische Geschichtsbewusstsein kennt die "Roten" und die "Weißen" als kämpfende Parteien in diesem Krieg. George, der im "schwarzen Pferd" als Oberst auftritt, kämpft für die "Grünen"? Was war das für eine Gruppierung?
Diese Grünen hatten mit den heutigen Grünen nichts gemein. Sie waren die dritte Kriegspartei im Bürgerkrieg, und sind von Leuten wie Sawinkow erst erschaffen worden. Das war eine anarchische Bewegung, die vor allem die Bauern ansprach. Auf den russischen Dörfern gab es ja eine eigene Ordnung, die seit Ewigkeiten gültig war. Die Grünen wollten ein bäuerliches Russland, in dem jeder sein eigener Herr ist und sein eigenes Land beackert. Auch die Kirche spielte dabei eine große Rolle, aber vor allem ging es um die Autonomie der Bauern.
Hatte dieses Programm eine Tradition oder ist es erst in der Revolution entstanden?
Spätestens seit der Jahrhundertwende wurde unter russischen Intellektuellen die Frage diskutiert, wohin sich Russland bewegen soll. Dabei wurde immer wieder der russische Sonderweg ins Spiel gebracht. Im Grunde war diese Frage schon seit Peter dem Großen und Iwan dem Schrecklichen von Bedeutung: Wohin richtet man sich aus, nach Westen oder nach Osten? Im frühen 20. Jahrhundert war viel von einem dritten Weg die Rede, der weder nach Europa noch nach Asien führen, sondern eigenständig russisch sein sollte. In diesem Zusammenhang spielten für viele Intellektuelle die Bauern eine Rolle.
Verkörperten die Bauern vielleicht die russische Volkskraft?
Ja genau. Wobei Sawinkow selbst ein bisschen ironisch darüber spricht, dass bürgerliche Intellektuelle wie er das Volk verherrlichten, ohne es zu kennen. Sie hatten allenfalls Kontakt zu ihren Kutschern. Trotzdem standen die Bauern bei ihnen für die Kraft und die Wahrheit. So erklärt sich auch der Erfolg jener seltsamen Gestalt des Zarenberaters Rasputin, der in den Augen vieler ein Abgesandter dieser wahren russischen Welt gewesen ist. Und die Grünen haben eben versucht, diese Bauernkraft nach genuin russischen Vorbildern zu organisieren. Sie hatten die Vorstellung, das russische Volk sei von Natur aus gut, stark und frei, man müsse es nur von den aktuellen politischen Fesseln befreien.
Trotzdem ist der Oberst im "schwarzen Pferd" kein Bauernbefreier, sondern ein desillusionierter Kämpfer, dem die Absurdität des Krieges sehr bewusst ist. Auf die Frage "Wofür kämpfen wir?" antworten alle drei Kriegsparteien: "Für Russland". Aber warum kämpfen sie gegeneinander, wenn sie alle für Russland sind? Der Oberst meint: Sie kämpfen, weil Krieg ist, und sie töten, weil sie töten müssen. Das klingt beinahe zynisch.
Ich würde das nicht als zynisch bezeichnen. Es hat vielmehr eine existenzialistische Komponente. Ich ziehe einmal eine sehr riskante Parallele: Der Oberst kämpft wie ein Künstler, der an seinem Kunstwerk arbeitet, ob die Umstände nun günstig oder widrig sind. So sieht Sawinkow auch die Arbeit des Tötens. Sie gehört zu seiner Kunst, und das hat eine fast metaphysische Dimension. Es ist übrigens sehr interessant, dass "Das fahle Pferd" zunächst einen anderen Titel hatte. Er wird in der Sekundärliteratur nie genannt, aber ich meine ihn in einem Brief gefunden zu haben: Dort heißt das Buch "Werke und Tage", wie das klassische Lehrgedicht von Hesiod. Ich muss sagen, ich fände diesen Titel viel besser, weil er diese düstere Pflichterfüllung in den Vordergrund stellt.
Wir leben heute in einer Zeit, die sehr stark auf die Opfer bedacht ist. Sawinkow dagegen kümmert sich um die Opfer gar nicht. Im "schwarzen Pferd" befiehlt der Oberst George seinen Soldaten einmal, einen bolschewistischen Studenten zu massakrieren. Er weiß, dass es seinen bäuerlichen Leuten gefällt, wenn sie einen Studenten erledigen können, und er lässt ihnen sozusagen das Vergnügen.
Im ganzen Roman erlebt George jeden Gefühlsausdruck - ganz gleich, ob Zärtlichkeit oder Grausamkeit - wie ein Zuschauer, nicht wie ein Teilnehmer. Ist er im "fahlen Pferd" noch das Instrument des Schicksals, wird er im "schwarzen" zu dessen objektivem Beobachter. Schließlich geht es jetzt um mehr: Nicht um den Mord am Generalgouverneur, sondern um die Zukunft Russlands. Es ist diese Objektivität, die uns Lesern weh tut!
Wir sind eben schockiert, weil ihm das Schicksal des armen Studenten völlig gleichgültig ist.
So ist es im Roman! Im Leben haben sich die Sozialrevolutionäre um Sawinkow sehr ernsthaft mit der Frage nach den Opfern und damit auch der eigenen Schuld beschäftigt. Sie haben ihre Anschläge so geplant, dass dabei möglichst wenig Menschen zu Schaden kommen. Das waren andere Terroristen als die heutigen, die wahllos Menschen töten. Die russischen Sozialrevolutionäre hatten es immer nur auf ganz bestimmte Personen abgesehen, die sie aus politischen Gründen töten wollten. Sie waren sich der moralischen Fragwürdigkeit ihres Handelns sehr bewusst. Sawinkows Roman "Was nicht geschah", den wir noch nicht auf Deutsch veröffentlicht haben, hat den Terrorismus und die erste russische Revolution von 1905 zum Thema. Dieses Buch ist stilistisch weniger modern als die beiden anderen, es liest sich eher wie Tolstoi, aber in diesem Roman wird die Frage der Schuld immer wieder gestellt.
Die Attentäter können nachts nicht schlafen, weil sie die Gesichter ihrer Opfer nicht vergessen können. In ihrer Ideologie stand für sie an sich fest, dass ihr eigener Tod sie von der Schuld des Blutvergießens erlösen wird. Im Roman "Was nicht geschah" werden die Terroristen jedoch mit der Einsicht konfrontiert, dass sich ihre Schuld nicht tilgen lässt - auch nicht durch ihren eigenen Tod.
Interessant, dass es einen Roman gibt, in dem Sawinkow die alte Frage nach Schuld und Sühne explizit stellt, während er sie im "fahlen" und im "schwarzen Pferd" hochmütig abweist.
Das macht noch deutlicher, dass er in diesen beiden Texten eine eiserne Maske trägt, hinter der er sich verbirgt. Wie schon gesagt: Bei literarischen Texten darf man niemals den Erzähler mit dem Autor eins zu eins gleichsetzen.
Alexander Nitzberg wurde 1969 in einer ünstlerfamilie in Moskau geboren. 1980 reiste er nach Deutschland aus. Er studierte Germanistik und Philosophie in Düsseldorf und lebt nun als freier Schriftsteller, Übersetzer, Publizist, Librettist und Rezitator in Wien. Er hat u.a. Werke von Puschkin, Majakowski und Bulgakow übersetzt. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Preise.
Die beiden Romane von Boris Sawinkow sind in Nitzbergs Übersetzung im Berliner Galiani Verlag erschienen: "Das fahle Pferd" 2015, "Das schwarze Pferd" 2017.