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Ein Wagenrad mit Kerzen

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann, seit 23 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

In der Zeit, in der unsere heutige Adventgeschichte spielt, waren Horn und St. Georg noch zwei Vororte von Hamburg, wie man sie sich nicht unterschiedlicher vorstellen kann.


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Vor 400 Jahren bauten sich reiche Hamburger "Pfeffersäcke" im nahegelegenen Bauerndorf Horn ihre Landhäuser inmitten riesiger Gärten. Dadurch verlor der Ort seinen dörflichen Charakter. Übrig blieb nur ein strohgedecktes Bauernhaus, das noch eine besondere Rolle spielen wird.

Im benachbarten St. Georg jedoch machte sich das Elend breit. Wohin man im Mittelalter die Aussätzigen und Pestkranken abschob, wo man den Galgenhügel errichtete, da bildete sich ein Armutsquartier vor den Toren Hamburgs mit unvorstellbaren hygienischen Missständen, Wohnungsnot und Verwahrlosung.

Unsere Geschichte beginnt im Jahr 1832, als ein junger evangelischer Theologe aus Hamburg eine Stelle als Lehrer in der Sonntagsschule von St. Georg antritt und dort die schreiende Armut vor allem der Kinder kennenlernt. Der 24-jährige Johann Hinrich Wichern, der selbst aus bescheidenen Verhältnissen kam, war zutiefst erschüttert und gründete bereits nach einem Jahr eine "Anstalt zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder".

Im Hamburger Stadtsyndikus Karl Sieveking fand er einen mitfühlenden Partner, der ihm in dem noblen Horn ein altes Bauernhaus samt Grundstück überließ. Diese Bauernkate trug von alters her den Namen "Ruges Haus", vermutlich nach dem Erbauer benannt, doch der Volksmund machte daraus das "Rauhe Haus" - eine Bezeichnung, die sich bis heute hielt. Im Herbst 1833 fand die Gründungsversammlung im Auktionssaal von Hamburgs alter Börsenhalle statt, schon zu Weihnachten zogen die ersten zwölf bedürftigen Buben in das Rauhe Haus ein.

Die Zahl der betreuten Kinder wuchs von nun an beständig, so dass neue Gebäude errichtet werden mussten. Später kamen auch Mädchen hinzu, die ebenso wie die Buben in familienähnlichen Gruppen von zehn bis zwölf Mann von einem "Bruder" oder einer "Schwester" geleitet wurden. Diese Kleingruppen-Idee ist bis heute beibehalten worden, obwohl sich das Projekt "Rauhes Haus" inzwischen stark erweitert hat: Die Wohngruppen und -gemeinschaften befinden sich an rund 100 Adressen in Hamburg sowie im Kreis Segeberg und sind dezentral organisiert.

Gut 100 Kinder und Jugendliche leben in Wohngruppen und Lebensgemeinschaften. Doppelt so viele erhalten ambulante Hilfen daheim. Darüber hinaus werden rund 50 behinderte Kinder in ihren Familien betreut.

In der Sozialpsychiatrie erhalten chronisch psychisch Kranke Hilfe, ein Drittel davon durch "Betreutes Wohnen" in den eigenen vier Wänden. Hinzu kommt das "Haus Weinberg", ein Alten- und Pflegeheim, das 84 Bewohnern ein Zuhause bietet, überwiegend in Einzel-Appartements.

Die "Wichern-Schule" unterrichtet mehr als 1500 Kinder und Jugendliche in Grund-, Haupt- und Realschule sowie im Gymnasium. In der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie studieren 220 junge Menschen; 140 Frauen und Männer lassen sich in der Berufsschule für Altenpflege ausbilden.

Mehr als 3000 Menschen werden im Rauhen Haus betreut und ausgebildet. 975 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mehrheitlich in Teilzeit, sind in der Stiftung beschäftigt.

Doch wo bleibt die Adventgeschichte? Nun, am ersten Advent des Jahres 1839 hängt im Betsaal des Rauhen Hauses der erste Adventkranz der Welt. Die Kinder waren ungeduldig und wollten ständig wissen, wann denn endlich Weihnachten sei. Also baute Wichern aus einem alten Wagenrad einen Holzkranz mit 19 kleinen roten und vier großen weißen Kerzen. Und jeden Tag wurde eine Kerze angezündet.