Zum Hauptinhalt springen

Ein wahrhaft ruchloser Stoff

Von Jan Richard

Politik

Der Sprengstoff Semtex, ein Erbe aus der kommunistischen Tschechoslowakei, macht auch dem demokratischen Prag Probleme. Denn noch immer taucht das wahrhaft ruchlose Semtex, das eine Blutspur sondergleichen durch die jüngere Geschichte gezogen hat, in der Hand von Terroristen, der Mafia oder in Schurkenstaaten auf.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Semtex fast weißlich bis farblos, leicht knet- und formbar und ist, ohne chemische Zusätze, selbst von extra dressierten Hunden oder Geruchsdetektoren nicht zu erschnüffeln. In der hochangesehenen britischen Fachzeitschrift "Jane's Intelligence Digest", die im allgemeinen sehr vorsichtig mit leichtfertigen Verdächtigungen ist, wurde es erst jüngst wieder offen ausgesprochen: Es gäbe genügend Hinweise dafür, dass der in der tschechischen Republik noch immer tonnenweise gelagerte Sprengstoff Semtex von tschechischem Militärpersonal immer wieder an "unautorisierte Personen" abverkauft werde. Schon früher hatten tschechische Medien berichtet, dass die Armee offensichtlich nicht in der Lage sei, über den Bestand an Semtex ordentlich Buch zu führen, "womit sich das Risiko erhöht, dass solch ein hochgefährliches Material in die Hände von Terroristen oder der organisierten Kriminalität fällt."

Laut den tschechischen Medienberichten gibt in den Lagern der Armee noch ungefähr 60 Tonnen dieses geruchlosen Sprengstoffs, der in jedes Parfumfläschchen, in jede Rasierschaumdose, Lippenstifthülle oder Gummipuppe gepresst werden kann und damit eben, etwa bei der Handgepäckskontrolle auf Flughäfen, einfach nicht zu entdecken ist.

Der jüngste Fall, bei dem Semtex wieder eine Katastrophe hätte auslösen können, liegt erst wenige Monate zurück: Jener Mann, der am 27. Dezember des Vorjahres verhaftet werden konnte und offensichtlich ein Sprengstoffattentat in einem American Airlines-Flug von Paris nach Miami plante, hatte einen weißlichen Stoff in einer seiner Schuhsohlen versteckt. Laut Radio "Europe 1", das sich auf Polizeiquellen berief, war der Sprengstoff Semtex.

Der Lockerbie-Anschlag

Die fürchterlichste und folgenreichste Untat, die von Terroristen mit Semtex ausgeführt wurde, war der vom libyschen Geheimdienst geplante und von Agenten ausgeführte Anschlag auf die Pan Am-Maschine, die als Folge der Explosion über dem schottischen Lockerbie abstürzte und 270 Menschen mit in den Tod riss.

Seither Lockerbie ist Semtex einer massiven internationalen Kontrolle unterworfen worden. Der erste Schritt dazu zwar ein tschechisch-britisches Abkommen, das nach dem Ende des Kommunismus in Prag 1989 geschlossen werden konnte. Noch wichtiger ist die Konvention von Montreal von 1991 über die verpflichtende Kennzeichnung von Plastiksprengstoff, die auch von Tschechien unterzeichnet wurde. Seither wird Semtex, das seit den 50er-Jahren in einer chemischen Fabrik nahe Pardubitz ( Pardubice) östlich von Prag hergestellt wird (die heutige Firma dort trägt den Namen "Synthesia" und hat den früheren, eher martialischen Namen "Explosia" abgelegt) mit chemischen Zusätzen versehen, so dass es von den Sicherheitsdetektoren auf den Flughäfen erkannt werden kann. Zusätzlich wurden im Montrealer Protokoll strenge Handelsvorschriften für Semtex erlassen.

Die in Staatseigentum befindliche Synthesia stellt drei Arten von Semtex her, durch eine Mischung von Pentrite und Hexogen in einem jeweils unterschiedlichen (und geheimen) Mischungsverhältnis. Der Sprengstoff kann auch besonders gut unter Wasser und auch bei extremer Kälte eingesetzt werden.

Aber dieses heute bei Pardubitz hergestellte Semtex ist nicht das Problem - das Problem sind die noch immer in den Armeedepots lagernden und ohne chemische Zusätze "markierten" Altbestände sowie jene großen Mengen "unmarkierten" Sprengstoffs, die in der Zeit der kommunistischen Regime in den Export gegangen sind, ausschließlich in jene Länder, die des "Staatsterrorismus" verdächtig sind bzw. aktiv "Befreiungsarmeen" unterstützt haben.

1000 Tonnen nach Libyen

Vor 12 Jahren, so der heutige tschechische Staatspräsident Vaclav Havel, sind beispielsweise von der kommunistischen Regierung in Prag in den 70er- und 80er-Jahren rund 1000 Tonnen des unmarkierten Semtex nach Libyen gegangen.

Die heutige Regierung in Prag und der tschechische Geheimdienst (aufgrund der gefundenen, wenn auch nicht vollständigen Unterlagen) glauben, dass Semtex von Libyen aus wieder an Irisch-Republikanische Armee, die ETA, an die verschiedenen palästinensischen Terrororganisationen usw. weiterverkauft wurde. Semtex war auch mit im Spiel bei dem Anschlag 1998 auf die US-Botschaft in Nairobi, bei dem Anschlag 1995 auf einen saudiarabischen Militärkomplex in Riad, und 1993 bei dem ersten Attentat auf das World Trade Center.

Andere Empfängerländer des unmarkierten Semtex, das die kommunistische Tschechoslowakei auslieferte, waren der Irak, Nordkorea, Vietnam und Afghanistan.

Aber auch nach dem Ende des Kommunismus und der 1993 erfolgten Teilung der Tschechoslowakei in zwei unabhängige Staaten blieb das Problem Semtex virulent. In einem Bericht des neu formierten und unter parlamentarischer Kontrolle stehenden tschechischen Sicherheitsdienstes BIS von 1998 "muss man davon ausgehen, dass es einen großen Schwarzmarkt in der tschechischen Republik gibt, auf dem große Mengen unregistrierter Waren, vor allem Kleinfeuerwaffen, Munition und auch Sprengstoff inklusive Semtex kursieren." Weiters heißt es in dem BIS-Bericht: "Laut befreundeten ausländischen Geheim- und Sicherheitsdiensten, werden Waffen und Sprengstoff aus Tschechien nach wie vor durch verschiedene dunkle Kanäle an terroristische Gruppen überall in der Welt geliefert."

Dass es so etwas wie eine Schwarzmarkt für Semtex gibt, wurde letztes Jahr wiederum deutlich, als die tschechische Polizei zwei Schmuggler dieses mörderischen Gutes festnehmen konnte.

Bereits im August 2000 war den tschechischen Fahndern in Olmütz (Olomouc) ein Mann ins Netz gegangen, der nach monatelanger Beschattung auf frischer Tat ertappt werden konnte: Er hatte gerade versucht, zwei Kilogramm unmarkiertes Semtex an einen Undercover-Agenten zu verhökern. Die Menge, die ausreicht, um 10 Flugzeuge in die Luft zu sprengen, war für wohlfeile 2000 D-Mark zu haben.

Drei Monate später, ebenfalls im Jahr 2000, gelang der Prager Polizei ein noch größerer Fang, sie verhaftete einen Mann, der gar 23 Kilogramm Semtex in seinem Besitz hatte. Sie bewahrte darüber aber in der Folge strengstes Stillschweigen - aus bis heute nicht geklärten Gründen.

Semtex ist aber auch nachweislich in der organisierten Kriminalität zur Austragung interner Konflikte und Revierstreitigkeiten im Gebrauch; es wurde etwa 1994 bei der Autobombe in Liberec verwendet.

Keine Prämie für Erfinder

Semtex wurde übrigens von zwei Chemie-Ingenieuren, Stanislav Brebera und Radim Fukatko, angeblich schon 1958 entwickelt. Wenig später hat das stalinistische Regime der damaligen Tschechoslowakei in einer geheimen Anweisung die vollen Patent- und Verwertungsrechte für sich ursurpiert, ohne den Erfindern auch nur eine Prämie zukommen zu lassen.

Mit Waffen wird nun weniger verdient

In kommunistischen Zeiten war die Tschechoslowakei ein wichtiger Rüstungsfabrikant der Warschauer Paktstaaten. Noch immer wird auch in den demokratischen Nachfolgestaaten, in der Slowakei und in der tschechischen Republik produziert, die Tendenz ist aber rückläufig.

So sind laut offiziellen Angaben des Handels- und Industrieministeriums die Erlöse aus Waffenverkäufen im vergangenen Jahr um 30 Prozent zurückgegangen - und zwar auf magere 68,3 Millionen Dollar. Hauptabnehmer sind Indien, Schweden, die USA and die Slowakei.

Munition und Sprengstoffe machen nur wertmäßig nur 5,8 Prozent der gesamten militärischen Ausfuhren, das kann es aber durchaus "in sich" haben. Denn der Hauptabnehmer von Kleinfeuerwaffen, Munition und Sprengstoff war der Jemen (133 Millionen Kronen), in dem ja immerhin El Kaida-Terroristen vermutet werden. Die tschechische Republik (also NATO-Mitgliedsland) hat jedenfalls ab Jänner dieses Jahres alle Lieferungen in den Jemen gestoppt. Diese reichlich späte Entscheidung wurde vom tschechischen UNO-Botschafter Hynek Kmonicek aber mit dem Hinweis verteidigt, dass gegen den Jemen "kein legal bindendes Waffenembargo" verhängt ist.