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Ein Wal schwimmt durch das Nadelöhr

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Wie man einen 250 Meter langen Ozeanriesen vom Binnenland sicher ins Meer steuert und etwas zum Erhalt uralten Kulturgutes beitragen kann, wissen die Lotsenbrüder.


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Ein Luxusliner mit 13 Decks, mehr als 1000 Passagierkabinen und so breit wie sechs Reihenhäuser nebeneinander wurde in einer Papenburger Großwerft hergestellt und trat Mitte Februar seine 40 Kilometer lange Reise zum Ozean entlang der relativ schmalen und seichten Ems an. Eigens dafür musste der Wasserstand des norddeutschen Flusses kurzfristig erhöht werden. Ein besonderes Nadelöhr bildete auf halbem Wege eine Klappbrücke bei Leer, weil dort der Abstand zwischen den Pfeilern nur wenig größer ist als die Schiffsbreite.

Dass die Überführung dennoch reibungslos gelang, ist vor allem der "Lotsenbrüderschaft Emden" zu danken. Das komplizierte Manöver wurde zuvor an einem computergesteuerten Simulator in den Niederlanden trainiert. Das Kreuzfahrtschiff fuhr die ganze Strecke "rückwärts", weil das die bestmögliche Manövrierbarkeit gewährleistet. Und zwei Schlepper assistierten dem Giganten.

Doch was sind eigentlich Lotsenbrüderschaften, fragte ich mich als eingefleischte Landratte. Die amtliche Definition lautet: Sie sind Körperschaften öffentlichen Rechts, die von den für ein Lotsenrevier bestallten freiberuflichen Lotsen gebildet werden. Zuständig für die Reviereinteilung und die Bestallung der Lotsen ist das Verkehrsministerium des Bundes. Mit anderen Worten: Das sind freie Unternehmer, die aber eine öffentliche Aufgabe erfüllen, indem sie den Schiffsverkehr regeln.

Das deutsche Lotswesen hat eine lange Tradition. Nach historischen Quellen nahmen bereits im 13. bis 14. Jahrhundert ortskundige Fischer die Aufgabe eines Lotsen wahr. Im Jahr 1299 wird im Lübschen Schiffs- und Seerecht erstmals der Lotse auf der Trave erwähnt. 1656 tritt mit der "Hamburger Pilotage Ordnung" die älteste deutsche Lotsordnung in Kraft. Die erste staatliche Lotsenstation eröffnet 1784 an der Ostseeküste nahe Kiel.

An der grundsätzlichen Aufgabe hat sich bis heute wenig geändert. Der Rat von Lotsen ist besonders in engen und schwierigen Fahrwassern gefragt - auf Meeren, Flüssen und Kanälen. Sie geleiten das Schiff aufgrund ihrer detaillierten Ortskenntnis durch alle Untiefen und Gefahren. Sie helfen dem Kapitän, der eventuell noch nie in diesen Gewässern war, auch bei extremen Wetterverhältnissen mit Nebel, Sturm und Eisgang, sicher das Ziel zu erreichen.

In neun Lotsenbrüderschaften sind rund 850 deutsche See- und Hafenlotsen organisiert. So sieht es das deutsche Seelotsgesetz (1954) vor, das einzige Gesetz dieser Art, das ins Japanische und Chinesische übersetzt worden ist. Korea, Taiwan und andere Staaten ziehen es als Vorbild für die eigenen Vorschriften heran. Die Brüderschaft kümmert sich um die Ausbildung des Nachwuchses und um die soziale Sicherheit ihrer Mitglieder. Mit rund 6000 Euro im Monat verdient so ein Lotse auf den ersten Blick gar nicht schlecht; davon muss er aber alle Nebenkosten selbst bezahlen. Und weil die Schiffe immer größer werden, der Verkehr immer dichter wird, nimmt die Zahl der Lotsungen pro Kopf immens zu. Von Freizeit, die früher manchen anlockte, keine Spur mehr. So haben die Brüderschaften immer mehr Nachwuchsprobleme.

Und die Kultur? Geografisch bedingt, befinden sich die meisten Brüderschaften in Norddeutschland. Und dort kümmern sich manche um den Erhalt der Shanty-Kultur. Lotsenchöre singen Seemannslieder wie seit 600 Jahren. Der Vorsänger, Shantyman genannt, kann seinen Vorgesetzten in freier Improvisation die Wahrheit ins Gesicht sagen, nein, singen! Und datt meest oop Platt!