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Ginge es nach der Zahl der Gotteshäuser, wären die Harzer die religiösesten Deutschen. Alle Baustile - von der Romanik bis zum Jugendstil - sind durch bedeutende Kirchen vertreten.
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Die dritte Etappe unserer kleinen Harz-Reise führt uns in einen "Wald voller Kirchen", denn das nördlichste Bergland verfügt über eine große Anzahl sowohl architektonisch bedeutender als auch aus anderen Gründen sehenswerter Gotteshäuser. Zu ersteren Bauwerken zählen vor allem die weithin bekannten Dome in Halberstadt, Quedlinburg und Goslar.
Doch selbst in dem kleinen, unbekannten Nest Benzingerrode ragt unvermittelt ein wuchtiger, achteckiger Kirchturm empor. Wer kennt nicht das Wahrzeichen Berlins, die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche? In einer Nachbildung im Maßstab 1:10 kann man hier die ursprüngliche Schönheit dieser neuromanischen Kirche nachempfinden. Die "Dorfkirche" wurde im Jahre 1903 nach dem großen Berliner Vorbild erbaut.
Was mich als Österreicher aus dem Land der prächtigen Barockkirchen besonders beeindruckt, sind die zahlreichen Holzkirchen in dieser vom Bergbau geprägten Harzlandschaft. Eine typische Harzer Holzkirche steht zum Beispiel in Rübeland. Das Bauwerk setzt mit seinen rot gestrichenen Querbalken einen markanten Farbtupfer.
Am Osthang des Brocken, inmitten bewaldeter Hänge durch vorgelagerte Berge gegen Winde geschützt, liegt ein kleines Dörfchen namens Elend. Ein steiler Fußweg führt hinauf zur gewaltigen "Schnarcherklippe". Das groteske Felsengebilde bringt bei Südostwind eigenartige schnarchende Töne hervor. Hier ist der Schauplatz der Walpurgisnacht in Goethes Faust: "Seht die langen Felsennasen, wie sie schnarchen, wie sie blasen!" Das Wahrzeichen des 400-Seelen-Dorfes Elend ist eine Holzkirche - mit fünf mal elf Metern die kleinste in Deutschland. Manchmal muss der Altar beiseite rücken, weshalb er gleich auf Rollen befestigt wurde.
Der Fachwerkbau wurde 1897 im neugotischen Stil erbaut und zunächst ohne Turm und Apsis eingeweiht. Erst durch Spenden Elender Bürger konnte der Turm nachträglich gebaut werden und somit erhielt die Kirche 1904 im Wesentlichen ihre heutige Form, samt Kanzel und Orgel.
Keine 30 Kilometer entfernt befindet sich - ebenfalls im Harz - die größte Holzkirche Deutschlands, die Marktkirche zum Heiligen Geist in Clausthal. Aufgrund ihrer reichen Innenausstattung zählt sie zu den bedeutendsten Baudenkmälern des norddeutschen Barock. Mit ihren 57 Metern Länge fasst die in hellstem Grau strahlende Hallenkirche 25 Mal so viele Gläubige wie ihre kleine Schwester in Elend, nämlich 2000.
Ein ganz besonderes "hölzernes Juwel" jedoch steht in dem Harzer Kurort Hahnenklee. Die sogenannte Stabkirche ist in Bauweise und Ausstattung einzigartig unter den Kirchenbauten Deutschlands. Wer Ihresgleichen sucht, muss bis nach Norwegen fahren, am besten nach Borgund, nach dessen Vorbild das Gotteshaus im Harz 1908 gestaltet wurde. Drachenköpfe und Midgardschlangen verweisen auf Wikingerschiffe. Die Fenster gleichen Bullaugen und von der Decke herab hängt ein großer Kronleuchter, einem Steuerrad nachgebildet. Die Grundkonstruktion besteht aus Holz und hat weder Nägel noch Schrauben. Die terrassenförmigen Dächer sind mit Holzschindeln bedeckt.
Die in ihrer schlichten Bauweise Geborgenheit schenkende Kirche hat vielen Menschen dieses Psalmwort wahr werden lassen: "Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege." Nicht zuletzt deshalb lassen sich immer mehr Paare in der Stabkirche trauen.
Markus Kauffmann, seit 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.