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Sie ist ein Anziehungspunkt im Besuchsprogramm vieler japanischer Touristen: Die im Gründerzeit-Stil eingerichtete Gedenkstätte für den japanischen Schriftsteller und Übersetzter Mori Ôgai in der Luisenstraße in Berlin-Mitte. Der Arzt und Literat kam 1884 zu einem Studienaufenthalt nach Berlin, blieb vier Jahre und nutzte seine Zeit in Deutschland dazu, sich Unmengen von europäischer, vor allem deutscher Literatur anzueignen, die er später in seinem Heimatland durch Übersetzungen bekannt machte. Vor allem die Klassiker faszinierten ihn, von denen er viele, darunter Goethes "Faust", Lessings "Emilia Galotti" oder Kleists "Erdbeben in Chili" als Erster ins Japanische übersetzte. Heute kennt man Mori Ôgai als einen der bedeutendsten Wegbereiter der Rezeption deutscher Literatur in Japan.
Nach der Beendigung der Selbstisolation des asiatischen Landes vor 130 Jahren gehörte der in der kleinen Residenzstadt Tsuwano im Südwesten Japans geborene älteste Sohn einer traditionsreichen Samurai-Familie zu jenen Japanern, die in Europa den wissenschaftlichen Kenntnisstand und die Kultur erkundeten. In seinem "Deutschlandtagebuch" schildert Ôgai, der schon mit zehn Jahren begonnen hatte, Deutsch zu lernen und der nach dem Eintritt in die japanische Armee als Militärarzt nach Deutschland gesandt wurde, um sich medizinisch weiterzubilden, die Erlebnisse und Eindrücke seines von 1884 bis 1888 dauernden Aufenthaltes, der ihn nach Leipzig, Dresden, München und Berlin führte.
Übersetzer und Dichter
Ôgai, der nach dem Willen seiner Eltern die Familientradition als Arzt weiterführen musste, begann sich ins kulturelle und gesellschaftliche Leben der deutschen Hauptstadt zu stürzen und Unmengen von belletristischer Literatur zu verschlingen. Ergebnis davon waren die bis zu seinem Tod - neben den genannten Klassiker-Übersetzungen - betriebenen Übertragungen der Werke damaliger europäischer Gegenwartsautoren wie Rainer Maria Rilke, Gabriele d’Annunzio, Arthur Schnitzler, Oscar Wilde, Gerhart Hauptmann, Hans Christian Andersen oder Henrik Ibsen ins Japanische. Sein Werkregister enthält insgesamt 136 Übersetzungsarbeiten.
Ebenso wie als Übersetzer genießt Mori Ôgai auch als Schriftsteller in seiner Heimat bis in unsere Tage hohes Ansehen. Als Wegbereiter der modernen Literatur seines Landes schuf er mit seinem 1890 erstmals veröffentlichten und 2010 in einer deutschsprachigen Neuausgabe erschienenen Buch "Das Ballettmädchen" die erste japanische Ich-Erzählung überhaupt, in der ein Autor eigene Erlebnisse in Literatur verwandelte.
In seiner im Untertitel als "Berliner Novelle" bezeichneten Erzählung, der man deutlich den Einfluss Rilkes, Schnitzlers und Hauptmanns anmerkt, schildert Ôgai - seine realen Erfahrungen kaum verhüllend - die Geschichte der deutschen Tänzerin Elis und des japanischen Studenten Toyotaro, die sich 1888 auf den Straßen der Reichshauptstadt kennen und bald darauf lieben lernen. Sie erleben Monate des Glücks, um dann - nachdem Elis schwanger wird und man Toyotaro zur Rückkehr nach Japan drängt, wo ihm eine große Karriere in Aussicht gestellt wird - an den Konventionen der streng hierarchisch strukturierten japanischen Gesellschaft der damaligen Zeit zu scheitern.
Während Toyotaro mit gebrochenem Herzen der Vernunft folgt und in seine Heimat zurückkehrt, verfällt die Geliebte dem Wahnsinn.
Im realen Leben folgte Elise Wiegert, so der Name von Ôgais damaliger deutscher Freundin, dem Geliebten zwei Wochen nach seiner Rückkehr 1889 nach Japan, weil sie dort seine Frau werden wollte.
Strenge Traditionen
Doch die Familie hatte anderes mit ihm vor und Mori Ôgai ließ sich verleugnen. Elise musste nach Deutschland zurückkehren und Ôgai wurde in eine arrangierte Ehe gezwungen, die nur ein Jahr hielt. Noch einmal hatte die strenge Tradition des Landes gesiegt. Seine folgende Öffnung gegenüber dem Westen aber ist nicht zuletzt Vermittlern wie Mori Ôgai zu verdanken.
Aus Anlass des 150. Geburtstages des Autors brachte der Manesse Verlag jetzt auch Ôgais Hauptwerk, die vor der Kulisse Tokios spielende zart-süße Liebesgeschichte "Die Wildgans", heraus. Der 1915 erstmals erschienene, an äußerer Handlung arme Roman, der die sich ändernde Rolle der Frau im sich modernisierenden Japan der Zeit thematisiert, erzählt von den Träumen und Sehnsüchten des intelligenten und anmutigen Mädchens Otama, das, um seinem verarmten Vater zu helfen, als Nebenfrau eines Kaufmanns und Wucherers ein eher freudloses Dasein fristet.
Der attraktive Medizinstudent Okada, der jeden Tag an ihrer Tür vorbeispaziert, lässt sie ihr Los ertragen und weckt mit seinen Blicken ihre Sehnsüchte und den großen Wunsch, mit ihm alleine zusammenzutreffen. Doch das Schicksal durchkreuzt Otamas Vorhaben in dieser Geschichte, die die Kraft der Sehnsucht und Freundschaft beschwört und diese mit der Macht alltäglicher Lebenszwänge konfrontiert.
Im Jahr 1915 nahm Ôgai, um noch mehr Zeit für die Literatur zu haben, Abschied vom Militär. Kurz darauf wurde ihm die große Ehre zuteil, zum Leiter der kaiserlichen Sammlungen und der kaiserlichen Bibliothek ernannt zu werden.
Am 9. Juli 1922 starb Mori Ôgai im Alter von 60 Jahren. Kurz vor seinem Tod hatte er noch den Willen festgelegt, ohne besondere militärische oder staatliche Ehren bestattet zu werden.
Literaturhinweise:
Mori Ôgai: Deutschlandtagebuch 1884-1888. konkursbuch Verlag, 320 Seiten.
Mori Ôgai: Das Ballettmädchen. Eine Berliner Novelle. Japan Edition im bebra Verlag, 120 Seiten.
Mori Ogai: Die Wildgans. Roman. Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Fritz Vogel-gsang. Manesse Verlag, 240 Seiten.
Die Mori Ôgai-Gedenkstätte in Berlin, Luisenstraße 39, unweit der U-Bahn-Haltestelle Oranienburger Tor, ist von Montag bis Freitag von 10.00 bis 14.00 Uhr geöffnet.