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Ein Wirtschaftsexperte im Quirinalspalast

Von Micaela Taroni

Politik

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Rom · Erstmals in der italienischen Republik zieht ein parteiunabhängiger Fachmann in den Quirinalspalast ein, den prunkvollen Sitz des Staatspräsidenten in Rom. Der 78jährige Wirtschafts-

und Schatzminister Carlo Azeglio Ciampi, 14 Jahre lang Gouverneur der italienischen Zentralbank, ist kein Spitzenpolitiker einer Regierungspartei, er ist nicht einmal Parlamentarier. Und doch konnte

er in den letzten sechs Jahren die politischen und wirtschaftlichen Geschicke Italiens tiefgreifend beeinflussen und durch seine Kompetenz und internationales Renomme alle prestigereichsten Ämter

Italiens besetzen.

Bescheidenheit ist die herausragendste Eigenschaft des neuen Staatschefs. "Mir hat das Leben schon alles gegeben. Ich habe 14 Jahre lang die Notenbank geführt und ein Jahr lang eine Regierung

geleitet. Als Wirtschaftsminister konnte ich in den letzten drei Jahren an der Erfüllung eines großen Traums mitwirken, dem Beitritt Italiens zur Währungsunion. Was kann ich noch mehr verlangen?",

fragte Ciampi kurz vor der Präsidentenwahl. Doch die italienische Politik gab sich nicht zufrieden und forderte noch mehr von ihm.

Der 1920 in der toskanischen Hafenstadt Livorno geborene Ciampi wuchs in katholischen Kreisen auf. Er promovierte in italienischer Literatur und Jus an der Universität Pisa. Nach dem Zweiten

Weltkrieg trug er zur Bildung der laizistischen Partei "Partito D'Azione" bei. Ciampi zählt zu den Spitzenvertretern einer toskanischen Führungselite, zu der unter anderem der verstorbene

Regierungschef Giovanni Spadolini und der amtierende Außenminister Lamberto Dini zählen. Ciampi, der gern Goethe und Rilke zitiert, mußte sich mehrmals gegen Vorwürfe wegen Verbindungen zur

Freimaurerei wehren.

Der 1963 als Funktionär in die Banca D'Italia eingetretene Ciampi besetzte zwischen 1979 und 1993 den Posten des Notenbankchefs. 1993, kurz nach Ausbruch des Schmiergeldskandals "Tangentopoli", der

eine ganze politische Elite wegfegte, wurde er aufgerufen, ein parteiunabhängiges Übergangskabinett mit der Aufgabe zu bilden, das Land bis zu den Neuwahlen 1994 zu führen. Während immer mehr

Politiker in den Sog des Skandals gerieten, wurde Ciampi als "Retter in der Not" in den Palazzo Chigi, den Regierungssitz, gerufen.

Während seiner Amtszeit beschleunigte Ciampi die Privatisierung staatlicher Unternehmen und bemühte sich, das riesige Budgetdefizit einzudämmen. Den größten Erfolg seiner Karriere erntete er jedoch

nicht als Regierungschef, sondern als Wirtschaftsminister des Kabinetts von Romano Prodi (Mai 1996 bis Oktober 1998). Zusammen mit dem Premier arbeitete er unermüdlich für den Beitritt Italiens in

die Europäische Währungsunion. Den strengen Sparmaßnahmen des Ministers verdankt Italien die niedrige Inflationsrate und die Eindämmung des gewaltigen Budgetdefizits. Ciampi wurde im Oktober 1998

auch von Prodis Nachfolger Massimo D'Alema im Amt des Wirtschafts- und Schatzministers bestätigt.

Der zehnte italienische Staatspräsident muß sich für die siebenjährige Amtsperiode mehrere Ziele setzen, die mehr oder weniger sein Vorgänger Oscar Luigi Scalfaro verfehlt hat. Die Verfassungsreform

wird zu den Hauptaufgaben zählen, mit denen sich Ciampi auseinandersetzen muß. Obwohl der italienische Präsident mehr Moderator als Protagonist der politischen Erneuerung ist, kann er trotzdem das

Parlament mit seiner Persönlichkeit dazu drängen, eine einheitliche Linie in puncto Staatsreformen zu suchen.

Es ist nicht auszuschließen, daß Ciampi keine vollen sieben Jahre amtiert, sondern sein Mandat nach zwei oder drei Jahren unterbrechen muß. Eine Hauptreform, die von D'Alema angestrebt wird, ist

nämlich die Direktwahl des Staatschefs, für die die italienische Öffentlichkeit mit Nachdruck plädiert. Sollte diese Reform eingeführt werden, müßte Ciampi zurücktreten. Ein neuer Präsident würde

nach den neuen Kriterien gewählt werden. Es ist nicht auszuschließen, daß der populäre Ciampi auch die Direktwahl des Staatschefs schaffen würde.