Zum Hauptinhalt springen

Ein Wirtschaftssystem kippte

Von Hans Ruoff

Politik

Hamburg - Es war ein historischer Moment. Punkt 0 Uhr am 1. Juli 1990 öffnete ein Mitarbeiter der Deutschen Bank die Türen der neuen Filiale im Herzen von Ostberlin. Im Schweinwerferlicht der Medien trat der erste Kunde an den Schalter. Die D-Mark, Währung des einstigen Klassenfeinds, war im ehemals sozialistischen Deutschland angekommen - noch vor der politischen Wiedervereinigung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 24 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Deutsche Bundesbank hatte 25 Milliarden Mark (heute: 12,78 Mrd. Euro/176 Mrd. S) in die damalige DDR geschafft, um den Hunger nach Westwährung zu stillen. In den ersten Stunden nach Beginn der Währungsunion wurden mehr als 2,6 Milliarden ausbezahlt. In einigen Banken wurden die 20-DM-Scheine knapp.

Doch die "Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion" der beiden deutschen Staaten war mehr als ein gigantischer Geldumtausch. Sie war die komplette Transformation eines Wirtschafts- und Sozialsystems. Jetzt regierte die Marktwirtschaft. Und ab sofort wurden in der Noch-DDR Waren und Dienstleistungen in DM abgerechnet.

Die Folgen waren gravierend. Viele DDR-Betriebe waren der Konkurrenz aus dem Westen nicht gewachsen und brachen zusammen. Andere konnten ihre Produkte nicht mehr verkaufen, weil die traditionellen Ost-Märkte nicht in harter Währung zahlen konnten. Auch der Inlandsmarkt kippte: Viele DDR-Bürger kauften die lange ersehnten West-Waren und verschmähten Ost-Produkte. Die Industrieproduktion sank schlagartig um 42 Prozent. Nach einem Jahr Währungsunion war ein Drittel der früheren Arbeitsplätze verloren. Noch heute ist die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland mit fast 17 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Westen.

An Warnungen im Vorfeld hatte es nicht gefehlt. Der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl lehnte noch im Februar 1990 eine schnelle Währungsunion ab. Er forderte als ersten Schritt eine Sanierung der DDR-Wirtschaft. Auch die "fünf Weisen" des Wirtschaftssachverständigenrates plädierten für Reformen vor einer Fusion. Doch zu diesem Zeitpunkt war der Veränderungsdruck in der DDR kaum mehr zu kontrollieren. Schon kurz nach der Öffnung der Berliner Mauer im November 1989 waren die Parolen der Demonstranten eindeutig: "Kommt die D-Mark, dann bleiben wir. Kommt sie nicht, dann gehen wir zu ihr." Die Gefahr einer Massenabwanderung war real. Im Frühjahr 1990 strömten täglich 2.000 DDR-Bürger in den Westen. Bundeskanzler Helmut Kohl trat die Flucht nach vorn an. Am 1. Juli wurden DDR-Löhne, -Pensionen und kleine Sparguthaben komplett auf D-Mark umgestellt.

Vom ersten Kauf- und Konsumboom profitierten Auto- und Fernsehhändler, Reisebüros und Versicherungsvertreter - oft aus Westdeutschland. Doch im Industrie- und Dienstleistungsbereich wich die Euphorie schnell der Ernüchterung. Die Industriebrachen wuchsen, und vielen Ostdeutschen erschien später Kohls Versprechen von den "blühenden Landschaften" wie Hohn. "Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor - dafür vielen besser", hatte Kohl versprochen. Steuererhöhungen schloss die Regierung aus. Doch Experten wussten schon damals: Die Finanzierung der Einheit würde teuer werden. 1,4 Billionen Mark flossen bis heute von West nach Ost. Sie verwandelten sich in neue Straßen und Bahnstrecken, Krankenhäuser und Telefonnetze. Milliardensubventionen stützten Betriebe, förderten Betriebsansiedlungen und verhalfen Arbeitslosen zumindest zeitweise zu Lohn und Brot. Doch bei Produktivität und Steueraufkommen hinkt der Osten immer noch deutlich hinterher - trotz einzelner Ausnahmen.