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Eine andere Welt ist spürbar

Von Leo Gabriel

Politik

"Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon auf dem Weg; und wenn du in einem Moment der Ruhe hinhörst, dann kannst du sogar spüren, wie sie atmet." Mit diesen poetischen Worten schloss die indische Schriftstellerin Arundathi Roy vor etwa 20.000 Menschen im großen Amphitheater "Gigantinho" von Porto Alegre die letzte Veranstaltung des III. Weltsozialforums (WSF), das kürzlich zu Ende ging.


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Und tatsächlich: würde man die Bedeutung dieses Ereignisses, das vom 23. bis 27. Jänner in der Hauptstadt des südbrasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul stattfand, nur auf die eindrucksvollen Statistiken reduzieren, würde man ihm keineswegs gerecht. Denn dass, wie die Veranstalter nach Abschluss des Megakongresses versicherten, insgesamt an die 100.000 Menschen, davon 20.763 Delegierte von 5.717 Organisationen aus 156 Ländern die 1.286 Workshops besuchten, kann wohl nur als die Spitze eines Eisbergs angesehen werden, dessen Grundlagen viel tiefer liegen.

Ebenso ungenügend wäre es, den geradezu unmöglichen Versuch zu wagen, die Fülle der Veranstaltungen in strukturierter Form wiederzugeben, die in den Programmheften aufgelistet sind. Sie konnten erst am zweiten Tag des Forums in gedruckter Form erscheinen, u.a. deshalb, weil sich bis zum letzten Tag vor Beginn des WSF Gruppen gemeldet hatten, die sich auf die eine oder andere Art aktiv einbringen wollten. Dass das Chaos trotzdem nicht perfekt war, war allerdings weniger auf das Krisenmanagement der Veranstalter zurückzuführen, sondern auf die Geisteshaltung der überwiegenden Anzahl der TeilnehmerInnen zurückzuführen, welche die Ordnung eben nicht als gegeben voraussetzten, sondern als etwas, was in unzähligen zwischenmenschlichen Kontakten erst geschaffen werden musste - und zwar in Windeseile.

Viel wichtiger als die Themenstellungen, die sich seit dem Vorjahr nicht wesentlich geändert hatten, war eben der viel beschworenes "Geist von Porto Alegre", der (mehr als im letzten Jahr) von einer gemeinsamen politischen Grundhaltung geprägt war: "Während wir 2002 Visionen entwickelten, wie so ein Bauplan einer anderen, möglichen Welt aussehen könnte, geht es dieses Jahr darum, die Voraussetzungen zu schaffen, eine solche Welt in die Praxis umzusetzen," meinte etwa Susan George, die Altmeisterin der Globalisierungskritik, die demnächst ihren 70. Geburtstag feiert.

Wunsch nach Einheit

Gerade angesichts der beiden gigantomanischen Offensiven, die die etablierten Mächte - allen voran die USA und die WTO - mit dem Krieg gegen den Irak und dem Privatisierungszwang auf weltweiter Ebene - im Schilde führen, war bei den TeilnehmerInnen des WSF der Wunsch nach Einheit größer als zuvor - nämlich das als realistisch angesehene Bestreben, die Fundamente des neoliberalen Gesellschaftsmodells grundlegend zu verändern. "Die Krise ist zugleich auch unsere Chance", war ein ebenso häufiges Argument wie der Satz von der "Hoffnung, die die Angst besiegt", der auch in die Rede des brasilianischen Präsidenten Eingang gefunden hat.

"Globalisieren wir den Kampf - globalisieren wir die Hoffnung", war deshalb auch Motto bei den beiden Großdemonstrationen, an denen bis zu 100.000 der sogenannten GlobalisierungskritikerInnen teilgenommen hatten. Und selbst einem derart analytischen und wenig emotionalen Denker wie Noam Chomsky war der Unterschied zwischen der schlechten Stimmung in Davos und der Lebensfreude in Porto Alegre ins Auge gestochen.

Die Wahl der Mittel

Um eine solche Einheit, die ja keine abstrakt-fundamentalistische sein kann, durchzusetzen, bedarf es geeigneter Instrumente. Diese Überzeugung hat in den letzten beiden Jahren allmählich die aus Europa stammende, radikal wirkende Skepsis gegenüber jeglichem Organisationsmodell aufgeweicht, das sich an Hierarchien und Systemen der repräsentativen Demokratie orientiert.

Hier dürfte der "Versammlung der Sozialen Bewegungen", die in gewisser Hinsicht bereits von Beginn an das politische Kernstück des WSF darstellt, ein noch etwas zaghaft formulierter, aber nicht unerheblicher Durchbruch geglückt sein. In ihrer Schlusserklärung wird die Bildung einer Kontaktgruppe als Instrument für die internationalen Mobilisierungen vorgeschlagen. Die Gruppe soll beim nächsten WSF einer Evaluierung unterzogen werden. "In der Zwischenzeit brauchen wir eine ausführliche Debatte zwischen den Organisationen, Netzwerken und Kampagnen, um Vorschläge für eine permanente und repräsentative Struktur auszuarbeiten", stellt das Dokument sogar in Aussicht.

Es ist anzunehmen, dass dieser Organisationsprozess auch innerhalb der an und für sich eher autonomen Netzwerke Platz greifen wird, und zwar in demselben Ausmaß, in dem sich die traditionellerweise hierarchisch gegliederten Gewerkschaftsblöcke und/oder Bauern- und Landlosenorganisationen von ihren jeweiligen Zentralen verselbständigen.

Das trifft insbesondere auch auf jene Bewegungen zu, die sich beim diesjährigen WSF am lautesten zu Wort gemeldet haben: die Antikriegsbewegungen. Angesichts der unmittelbaren Kriegsgefahr im Mittleren Osten haben sich im Anschluss an die großen Mobilisierungen in Florenz, Washington und London in mehr als 30 Weltstädten Netzwerke etabliert, die in den nicht-anglosächsischen Ländern vor allem aus Menschenrechts-, Sozial- und Umweltbewegungen bestehen - so wie es der Koordinator des Genovesischen Sozialforums, Vittorio Agnoletto, einmal formulierte: "Wir sind keine zweiköpfigen Gebilde, sondern Menschen, die erkannt haben, dass der Krieg eine notwendige Folge des Neoliberalismus ist".

Viele dieser Initiativen und Antikriegsbewegungen haben sich im Rahmen des WSF getroffen, um vor allem über die Koordination der Friedensarbeit in Bezug auf den bevorstehenden 15. Februar zu beraten. Besonders wichtig war dabei die Bereitschaft der US-amerikanischen Organisationen und Netzwerke, sich am Aufruf der europäischen Koalitionen zu beteiligen, der für den Fall des Kriegsausbruchs auch aktive Boykottmaßnahmen zu beteiligen. "Unser Ziel, eine Million Menschen auf den Ground Zero zu bringen, ist in greifbare Nähe gerückt", sagte eine Vertreterin von United for Peace and Justice, die im übrigen auch die Meinung Noam Chomskys teilt, dass die Anti-Kriegs-Bewegung in den USA bereits jetzt die Bewegungen zum Höhepunkt des Vietnam-Krieges in den Schatten gestellt hat.

Bereits im Vorfeld des diesjährigen WSF hatte es einige Kontroversen über die Frage gegeben, ob und wie der neue brasilianische Staatspräsident José Inácio "Lula" da Silva in das Forum eingebunden werden soll. Das Angebot von UN-Generalsekretär Kofi Annan, in Porto Alegre zu erscheinen, war bereits im November ebenso zurückgewiesen worden wie im Vorjahr der Besuch Fidel Castros. Begründung: Das Weltsozialforum ist eben eine Veranstaltung der Zivilen Gesellschaft und soll weder durch die Anwesenheit von Politikern noch durch den Einfluss politischer Parteien "verwässert" werden.

Im Falle des brasilianischen Präsidenten war die Situation dann doch etwas anders. Erstens weil Lula bereits seit der Gründung des WSF mit von der Partie der brasilianischen Gastgeber war, die in dem von der Partido dos Trabalhadores (PT; Arbeiterpartei) regierten Rio Grande do Sul ein wichtiger Faktor für das Zustandekommen des Forums war. Aber vor allem weil das Erfolgserlebnis der südamerikanischen politischen Situation aus dem Bewusstsein der TeilnehmerInnen nicht einfach ausgeklammert werden konnte.

Das Beispiel Lulas hat auch die Beziehung zwischen globalisierungskritischen Regierungen und Zivilgesellschaft verändert. Am deutlichsten zeigte sich dieses Phänomen bei dem Kurzbesuch des venzolanischen Präsidenten Hugo Chavez, der eigens nach Porto Alegre kam, um einige wichtige Entscheidungen bekannt zu geben: Venezuela wird als erstes Land der Welt die sogenannte Tobin-Steuer auf spekulative Kapitaltransfers einführen, eine Forderung, die zur Gründung eines weltumspannenden Netzes der globalisierungskritischen Bewegung (ATTAC) geführt hat. Außerdem ließ der Vorschlag einer Allianz der erdölproduzierenden lateinamerikanischen Länder ebenso aufhorchen wie die Forderung nach einem Schulterschluss der linksliberalen Regierungen des Südens zur Verweigerung der Bezahlung der Auslandsschulden.

Nicht zuletzt aufgrund dieser politischen Allianzen kam dem III. Weltsozialforum eine historische Bedeutung zu, die die indische Schriftstellerin zu dem eingangs zitierten Ausspruch veranlasste. Allen TeilnehmerInnen war klar, dass der Welt eine Periode großer Auseinandersetzungen bevorsteht. Ebenso klar war es aber auch, dass der ins Stocken geratene Verkehr im Tunnel der Einbahnstraße des Neoliberalismus, der im Norden wie im Süden Milliarden Menschen zu ersticken drohte, jetzt in Fluss geraten ist. Wer`s nicht glaubt, gehe zu einer der Antikriegsdemonstrationen, die am 15. Februar auf der ganzen Welt stattfinden werden - auch in Wien, wo das Austrian Social Forum, das auch in Porte Alegre vertreten war, zur Teilnahme aufrief.

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Der Autor ist Wissenschaftlicher Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für zeitgenössische Lateinamerikaforschung.