Zum Hauptinhalt springen

Eine Attacke auf Medien, live gesendet

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Die türkische Polizei stürmt die Redaktionsgebäude unliebsamer Medien.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Istanbul. Vier Tage vor entscheidenden Parlamentswahlen hat die türkische Polizei in einer beispiellosen Operation die Redaktionsräume eines regierungskritischen Medienkonzerns in Istanbul gewaltsam gestürmt. Mehrere Journalisten wurden verletzt und in Handschellen abgeführt, allen Angestellten der Zugang zur Redaktion untersagt. Auch Oppositionspolitiker, die ihre Solidarität mit den bedrohten Fernsehsendern zeigen wollten, wurden von der Polizei attackiert. Die Polizeiaktion folgte einem Gerichtsbeschluss gegen die Koza-Ipek-Mediengruppe. Diese ist Teil einer großen Wirtschaftsholding, der die Übergangsregierung der islamisch-konservativen AKP Unterstützung des Terrorismus vorwirft. Das Unternehmen weist die Vorwürfe strikt zurück.

"Liebe Zuschauer, seien Sie nicht überrascht, wenn Sie gleich Polizisten in unserem Studio sehen", sagte ein Moderator von Bugün TV in einer Live-Sendung am Mittwochmorgen. Mit Kettensägen drangen Polizisten anschließend in die Redaktionen und Regieräume der Fernsehsender Kanaltürk und Bugün TV ein. Als sich Journalisten und Angestellte ihnen in den Weg stellten, setzten die Beamten Tränengas und Wasserwerfer ein und verletzten mehrere Menschen. Bugün TV übertrug die dramatischen Szenen live und sendete die Ereignisse auch im Lauf des Tages zunächst weiter auf seinem Online-Kanal. Vor dem Redaktionsgebäude sammelten sich hunderte Unterstützer der attackierten Journalisten.

Kritiker bezeichneten die Polizeiaktion als Versuch, oppositionelle Medien vor den Wahlen am Sonntag, bei denen die AKP die vor fünf Monaten verlorene absolute Mehrheit wiedergewinnen will, mundtot zu machen. Führende Politiker der drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien eilten zum Redaktionsgebäude und verurteilten die Beschlagnahme als putschartigen Schlag der Regierung und des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen die Pressefreiheit und Demokratie. Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der prokurdischen Linkspartei HDP, sagte im Live-Interview mit Bugün TV: "Man will uns das Recht auf Information nehmen. Die Regierung selbst ist zum größten Feind der Meinungsfreiheit geworden."

Kafkaeske Vorwürfe

Der bekannte Politologe Mümtazer Türköne sieht Erdogan als Strippenzieher hinter der Operation und kommentierte dessen Handeln in der Zeitung "Today’s Zaman" als "puren Wahnsinn": "Eine Person, die befürchtet, alles zu verlieren, wenn sie die Wahl am Sonntag verliert, ein Diktator, der annimmt, er könne alles tun, trifft diese Entscheidung mit der Überlegung, dass es seine letzte Chance ist, vor dem Ende noch eine Trumpfkarte auszuspielen." Die Medien des Koza-Ipek-Konzerns gehörten bislang zu den wichtigsten Plattformen für Kandidaten der Oppositionsparteien.

Eines der von Erdogan eingeführten, umstrittenen "Friedensgerichte" hatte die Holding unter Zwangsverwaltung gestellt und drei ausgewiesene AKP-Anhänger zu Treuhändern ernannt. Damit gibt die Regierung offen zu erkennen, dass die Koza-Ipek-Medien in Zukunft AKP-freundlich berichten sollen.

Schon Anfang September waren 23 Firmen des Konzerns durchsucht worden, darunter Redaktionsgebäude in Ankara. Jetzt begründete die Staatsanwaltschaft die Zwangsverwaltung der Wirtschaftsholding, die auch im Bergbau, Bau- und Energiesektor aktiv ist, mit Ermittlungen wegen des Verdachts der "Terrorfinanzierung" und "Propaganda" für die sogenannte Gülen-Bewegung. Ein kafkaesk anmutender Vorwurf lautet, dass die Koza-Ipek-Gruppe eine "auffällig fehlerfreie Buchführung" habe. Stichfeste Beweise sind bisher nicht bekannt geworden.

Tatsächlich steht der Vorstandsvorsitzende Akin Ipek dem in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen nahe, und sein Firmenimperium gilt als Geldmaschine von dessen weltweitem Netzwerk. Der 74-jährige Gülen ist ein einstiger Weggefährte des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der ihn seit Ende 2013 als Erzfeind betrachtet und beschuldigt, eine Terrorgruppe gegründet und einen Staatsstreich geplant zu haben. Doch konnten der Gülen-Bewegung bisher weder Gewaltakte noch Putschpläne nachgewiesen werden.

Bittere Ironie

Die Quasi-Verstaatlichung der Koza-Ipek-Gruppe ist die neueste Operation gegen kritische Medien und Gülen-nahe Unternehmen in der Türkei. In den vergangenen zwei Wochen haben praktisch alle bedeutenden Kabelfernsehunternehmen und sogar die Satellitenfirma Türksat die Gülen-Medien aus ihrem Netz verbannt und damit praktisch kaltgestellt. Staatspräsident Erdogan hat darüber hinaus sämtliche Oppositionsmedien mehrfach persönlich angegriffen. Am Dienstag drohte auch der AKP-Abgeordnete und frühere Erdogan-Berater Aydin Ünal kritischen Medien, sie alle würden nach den Wahlen "zur Verantwortung gezogen".

Türkische und internationale Medienorganisationen protestierten scharf gegen die Übernahme der Koza-Ipek-Mediengruppe durch die Regierung. Diese entbehrt nicht einer bitteren Ironie. Der TV-Sender Kanaltürk war als härtester Gegner der AKP-Regierung unter den Fernsehkanälen bekannt, bis das Unternehmen 2007 an Akin Ipek verkauft wurde, der damals noch als enger Vertrauter des damaligen Premimiers Erdogan galt. Es war einer der wichtigsten Schritte, mit denen die AKP-Regierung ihre Kontrolle über die Medien konsolidierte. Nach dem Streit zwischen Erdogan und Gülen wandte sich auch Akin Ipek von der AKP ab, seine Medien wandelten sich zu scharfen Kritikern des Staatspräsidenten. Jetzt wurde er selbst zum Opfer der Methoden seines früheren Schützlings.