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"Wiener Zeitung": Die Fähigkeit, Freundschaften zu pflegen, gilt spätestens seit der US-Serie "Sex and the City" als etwas typisch Weibliches. Was sagen Sie als Mann dazu?Janosch Schobin: In den zahlreichen Ratgebern, die gerade auch in den letzten Jahren zu dem Thema erschienen sind und die vornehmlich von Frauen verfasst wurden, werden Freundschaften zwischen Männern zum Teil sogar ganz offen für schwächer gehalten als ihr weibliches Pendant. Das ist aber natürlich blanker Unsinn! Selbstverständlich gibt es nach wie vor zahlreiche gute Männerfreundschaften, nur reden Männer offenbar öffentlich nicht so viel über das Thema.
Haben Sie gute Freunde?
Ja, und dafür bin ich auch sehr dankbar! Offen gesagt war das aber nicht immer so. In meiner Kindheit und Jugend bin ich sehr oft umgezogen und habe in verschiedenen Ländern gelebt. Dabei habe ich zeitweise mehr Freunde verloren als neue gefunden. Ich habe also relativ früh erfahren, wie elementar und zugleich fragil Freundschaften sein können.
Wäre es für Sie eine Hilfe gewesen, wenn es Facebook schon früher gegeben hätte, um mit Freunden in Kontakt zu bleiben?
Tatsächlich besagt eine kürzlich durchgeführte Studie aus den USA, dass das Internet Menschen in die Lage versetzt, mehr Freundschaften aufrechtzuerhalten. Genau dafür sind soziale Netzwerke wie Facebook ja auch gedacht, nämlich mit Menschen, die man schon kennt, in Kontakt zu bleiben.
In Zeiten von Facebook wird den Menschen gern unterstellt, dass sie zu echter Nähe nicht mehr in der Lage sind. Zu Unrecht?
Ich glaube, dass die meisten Menschen sehr gut zwischen Online- und Offline-Freundschaften unterscheiden können. Virtuelle Freunde findet jeder schnell; wenn in der realen Welt Bindungen länger halten sollen, müssen Freunde Zeit miteinander verbringen. Im Internetzeitalter ist es zweifellos eine beliebte Diagnose, dass die Lebensform der Freundschaft bedroht ist. Doch dafür gibt es bisher keinerlei Belege. Insgesamt lässt sich sogar sagen, dass die Bedeutung und Tiefe von Freundschaft zugenommen hat.
Inwiefern?
Generell wird heutzutage sehr viel über Freundschaft geredet und darüber, was eine "gute Freundschaft" ausmacht. Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg - in Ostdeutschland sogar bis zur Wende - wurden Freunde danach ausgesucht, inwieweit sie sich für praktische Hilfestellungen eigneten: Es ging darum, dem anderen nützlich zu sein, sich gegenseitig auszuhelfen und sich im Berufsleben den Rücken zu stärken. Diese Werte sind in unserer Wohlstandsgesellschaft unwichtiger geworden. Ein guter Freund zu sein bedeutet heute, dem anderen emotional beizustehen. Das spiegelt sich auch in den tatsächlichen Freundschaftsbeziehungen. So geben etwa immer mehr Menschen zwischen 18 und 55 Jahren an, wenigstens einen Freund zu haben, zu dem sie eine emotionale Bindung haben. Man kann also sagen: Die Freundschaft wird "verfürsorglicht".
Fürsorglich bedeutet auch mütterlich und liebevoll. Verlangen wir heute deutlich mehr von unseren Freunden?
In der Tat. Und es gibt Bereiche, in denen wir schnell an Grenzen geraten, beispielsweise, wenn ein Freund schwer erkrankt und sich nicht mehr selbst waschen, anziehen und zur Toilette gehen kann.
Überfordert das nicht eine Freundschaft?
Bei unseren Untersuchungen hat sich gezeigt, dass die Rollenverteilung beim Thema Pflege ein wichtiger Faktor ist. Menschen sind durchaus bereit, einen Freund zu pflegen. Sich pflegen zu lassen hingegen war für die meisten eine höchst unangenehme Vorstellung. Ich würde also sagen, diese Form der Pflege überfordert zurzeit nicht die Freunde als Pfleger, sondern als Gepflegte.
Der Bereich Pflege wird bisher hauptsächlich von Verwandten übernommen. Können Freunde tatsächlich Verwandte ersetzen?
Die Verwandtschaftssysteme in unserer Gesellschaft verändern sich rapide. Aufgrund niedriger Geburtenraten besitzen immer mehr Menschen nur noch Eltern und Großeltern. Sinkt die Zahl von Geschwistern, Tanten, Onkeln, Cousinen, Cousins und so weiter, dünnt das Verwandtschaftsnetz aus. Hinzu kommen Scheidungsquoten um die 50 Prozent. Ein Leben mit Freunden als "Wahlverwandten" wird daher zu einer attraktiven Option, vor allem dann, wenn man die Alternative eines vereinsamten und fremdbestimmten Lebens etwa im Altersheim vor Augen hat.
Ist Freundschaft also eine Art ein dritter Weg zwischen Wohlfahrtsstaat und Familie?
Das zumindest ist die Hoffnung, die in Deutschland gerade aufkeimt. In verschiedenen Pilotprojekten wird dies auch bereits in die Tat umgesetzt. Tatsächlich läuft hier gerade vor unseren Augen ein historisches Experiment ab. Von den Erfahrungen, die dabei gemacht werden, hängt es ab, ob und in welcher Form die Freundschaft zu einem solchen dritten Weg wird.
Extrem wichtig in einer Freundschaft sind vertrauliche Gespräche, denen Sie sogar heilende Kraft bescheinigen. Worin besteht diese "Heilkraft"?
Die bezieht sich zunächst einmal auf alles, was mit dem seelischen Wohlbefinden zusammenhängt. Wenn wir uns nicht mehr zu helfen wissen, sind Freunde neben Partnern die erste Adresse. Nüchtern betrachtet können Freunde eine Hilfe dabei sein, den Blick auf das eigene Leben freizustellen und auf das, was noch möglich ist. Wenn man in einer Krise steckt, vom Partner verlassen wurde oder seinen Job verloren hat, braucht man einerseits jemanden, der einen wieder aufpäppelt, andererseits benötigt man - und das ist noch viel wichtiger - eine Vision dafür, wie es jetzt im Leben weitergeht. Da sind Freunde zweifellos elementar.
Weil sie uns mit unangenehmen Wahrheiten konfrontieren?
Richtig. Leider zeigt sich gerade darin aber auch, dass insbesondere Gespräche eine Freundschaft sehr auf die Probe stellen können. Einerseits gilt Aufrichtigkeit als einer der zentralen Werte der Freundschaft, andererseits drohen Freundschaften ständig an ihren eigenen Wahrhaftigkeitsgeboten zu scheitern.
Ein Beispiel bitte.
Freunde wissen in der Regel sensible Dinge voneinander. Sie tauschen Geheimnisse aus und verraten einander beispielsweise sexuelle Wünsche. Damit machen sie sich angreifbar und auch verletzbar für den anderen. Dieser Bindemechanismus hält Freundschaften zusammen. Ich bezeichne das als doppelte Geiselgabe.
Das klingt alles andere als positiv. Was verstehen Sie darunter?
Ein archaisches Ritual wie die Blutsbrüderschaft wäre ein Beispiel dafür.
So wie bei Winnetou und Old Shatterhand?
Die beiden sind im deutschen Sprachraum sicher das bekannteste Beispiel für Blutsbrüderschaft. Das Blut steht für das eigene Leben, das man sich gegenseitig übergibt. Das symbolische Lebenspfand des 21. Jahrhunderts aber ist das Geheimnis: Man muss also eine sprachliche Form finden, wie man vertrauliche Informationen, die man anderen gegenüber zurückhält, übermittelt. Da dieses Geben und Nehmen über die Sprache ausgedrückt wird, kommunizieren gerade langjährige Freunde häufig auf eine Art und Weise miteinander, die nur sie verstehen. Wer einmal mit engen Freunden "Tabu" gespielt hat, wird das gut nachvollziehen können. Bei diesem Gesellschaftsspiel müssen Begriffe erraten werden, ohne diese selbst oder verwandte Wörter zu verwenden - oft reichen hier die besagten "halben Worte".
Eine Art Geheimsprache pflegen häufig auch Ehepartner. Welche Auswirkungen hat es auf die Zweier-Beziehung, wenn sich die Liebe mit Freundschaft mischt?
In der Regel verbessert es die Aussicht, dass die Beziehung auf Dauer besteht. Das zumindest sagen meine Interviewpartner. Die Freundschaftsehe ist unter der Hand wieder beliebt geworden. Verliebtheit und Leidenschaft treten meist irgendwann in den Hintergrund. Dann stellt sich die Frage, inwiefern die Partner ein gemeinsames Leben führen, eine Arbeitsteilung haben oder auch streiten können - spätestens in diesem Moment wird Freundschaft zu einer wichtigen Komponente in der Beziehung. Wenn später die gemeinsamen Kinder aus dem Haus sind, entscheidet sich ein Zusammenbleiben daran, ob ein Paar miteinander befreundet ist oder nicht.
Von dem Comedian Hape Kerkeling stammt der Satz: "Liebe ist Arbeit, Arbeit, Arbeit." Ist es mit Freunden einfacher?(Lacht) Nein, gewiss nicht. Freundschaft ist eine anspruchsvolle Lebensform und mindestens ebenso kompliziert wie eine
intime Partnerschaft. Ein Leben im Kreis von Freunden erfordert eine kompliziertere Logistik und die Fähigkeit, Ambivalenzen und Einseitigkeiten zu tolerieren. Alles in allem handelt es sich also um eine schwierige, aber eben auch sehr lebenswerte Sozialform.
Wie definieren Sie persönlich Freundschaft?
Friedrich Nietzsche hat sinngemäß gesagt: "Wenn wir wirklich wüssten, was unsere Freunde über uns wissen, könnten wir
ihnen das niemals verzeihen."
Weil sie uns besser kennen als wir uns selbst?
Exakt! Ich stelle immer wieder mit Erstaunen fest, dass Freunde die Menschen sind, die besser über die Richtung unseres Lebens Bescheid wissen als wir selbst. Wir sind alle mit einer gewissen Selbstblindheit geschlagen. Freunde dagegen haben oft einen ungetrübten Blick auf die Schieflagen in unserem Leben.
Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin, Coach und Lehrerin in München. Ihr Podcast "sounds deutsch" (www.sounds-deutsch.de) richtet sich an alle, die Deutsch lernen und sich für Deutschland interessieren.
Zur Person
Janosch Schobin, geboren 1981 in Göttingen, studierte an der Universität Kassel Soziologie, Mathematik und Hispanistik. Seit 2006 ist er am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig und forscht dort unter anderem zum Thema Soziologie der persönlichen Beziehungen.
Sein Buch "Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel" ist 2013 in der Hamburger Edition erschienen.