Der bekannte CHP-Politiker und kurdische Menschenrechtsanwalt Sezgin Tanrikulu über Recep Tayyip Erdogans umstrittenes Verfassungsreferendum und die möglichen Folgen für die Türkei.
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"Wiener Zeitung": Im April werden die Bürger der Türkei wahrscheinlich über eine Verfassungsänderung abstimmen, die ein exekutives Präsidialsystem einführt. Wie sehen Sie die nähere Zukunft des Landes?
Sezgin Tanrikulu: Je nachdem, wie das Referendum ausgeht, gibt es völlig verschiedene Szenarien. Nicht einmal diejenigen, die es vorantreiben, können Vorhersagen treffen.
Braucht die Türkei denn eine neue Verfassung?
Daran besteht kein Zweifel. Die bestehende ist ein Produkt des faschistischen Militärputsches von 1980 und spiegelt immer noch diese Mentalität. Deshalb sollte das Parlament eine neue Verfassung ausarbeiten, aber die vorgeschlagenen Änderungen sind sicher nicht, was wir brauchen. Es soll nun ein "Präsidentschaftssystem nach türkischer Art" werden. Ich halte das für eine Beleidigung aller Türken, weil der Text wirklich eine Schande ist. Die Gewaltenteilung wird aufgehoben, der Pluralismus beseitigt. Das Parlament wird nur noch dem Namen nach existieren. Die Judikative wird dem Präsidenten untergeordnet, die Exekutive ist ihm ohnehin unterstellt. Es gibt kein Kabinett mehr, keine vom Parlament gewählten Minister.
Kann diese "Präsidentschaft türkischen Stils" das Land befrieden?
Die AKP regiert dieses Land seit 15 Jahren, sie hatte immer die Mehrheit im Parlament und stets ihre Ziele durchgesetzt. Ihre Leute haben die Lage geschaffen, in der das Parlament nicht so funktioniert, wie es in einer pluralistischen Demokratie funktionieren sollte. Und jetzt bezeichnen sie das Ergebnis als schlecht und erklären, sie würden die Fehler korrigieren. Aber in Wahrheit planen sie Verfassungsänderungen, die allein auf sie zugeschnitten sind. Für die Türkei wird das schreckliche Folgen haben.
Erdogan sagt, es werde ein System installiert, wie es in den USA oder in Russland existiert.
In Amerika gibt es eine unabhängige Justiz, dort funktionieren die demokratischen "checks and balances", wie wir gerade gesehen haben. Unmittelbar nach Donald Trumps Migrantenbann stoppte ein Bundesgericht das Dekret. Wäre so etwas in der Türkei möglich? Ausgeschlossen!
Warum wurden die Änderungen so schnell durchs Parlament gebracht?
Es wurde eine breite und angemessene Diskussion verhindert. Die AKP-Mehrheit hat uns gezwungen, das in nur elf Tagen zu machen, und deshalb haben wir 15 oder 16 Stunden täglich gearbeitet. Nimmt man die Vorbereitungen in der Verfassungskommission hinzu, dauerte der gesamte Prozess bis zur Verabschiedung im Parlament nur einen Monat. Aber jetzt haben sie plötzlich viel Zeit, um die Änderungen an den Präsidenten zu senden. Der Grund ist natürlich, dass sie den Tag des Referendums nach ihren Bedürfnissen arrangieren wollen. Denn sobald der Präsident unterschrieben hat, muss es 60 Tage später stattfinden.
Ist die Öffentlichkeit ausreichend informiert, was auf dem Spiel steht?
Ich glaube, dass nicht einmal die Mehrheit der Parlamentarier die 18 geänderten Verfassungsartikel und ihre Bedeutung für das politische System der Türkei wirklich verstanden hat. Ganz abgesehen von den Wählern, die sich in Medien informieren, die zu 90 Prozent von der AKP kontrolliert werden.
Was glauben die Menschen, worüber sie entscheiden?
Erdogan schafft eine Situation, in der er den Leuten sagt: Ich tue Dinge für euch, und ihr vertraut mir, also ist es nicht nötig, dass ihr alle Details kennt. Wenn ich euch sage, dass es gut ist für euch, dann ist es gut für euch.
Was setzt die Opposition dem entgegen?
Wir müssen den Leuten erklären, dass es diesmal nicht um die Wahl einer Partei geht, sondern um ein ganz anderes Thema. Wenn wir das schaffen, hat das Nein eine sehr gute Chance.
Unter dem geltenden Ausnahmezustand sind bestimmte Freiheiten suspendiert. Wie ist es möglich, unter diesen Umständen eine Wahlkampagne zu führen oder ein faires Ergebnis zu garantieren?
Unter einer Notstandsgesetzgebung können Sie keine legitime Verfassungsänderung umsetzen, ganz zu schweigen von einem so bedeutenden Referendum. Ein fairer Wahlkampf benötigt Meinungs-, Organisations-, Versammlungsfreiheit und so weiter. Für all dies benötigen Sie im Moment eine behördliche Genehmigung. Einige Leute werden die bekommen, andere nicht.
Noch schwerer ist es vermutlich für die prokurdische HDP.
Es stimmt, die HDP steht vor großen Schwierigkeiten. Ihre Ko-Vorsitzenden, Abgeordnete und wichtige Persönlichkeiten der Partei, viele Bezirksvorsitzenden und praktisch alle gewählten HDP-Bürgermeister sind inhaftiert. In den Medien werden sie ignoriert. Wie kann eine politische Partei unter diesen Umständen Wahlkampf machen?
Wenn das Referendum mit einem Ja endet, verlässt die Türkei dann den Weg des Republikgründers Atatürk nach Europa?
Garantiert wird es kein Teil Europas mehr sein.
Sezgin Tanrikulu Der kurdische Rechtsanwalt und und Mitbegründer der Stiftung für Menschenrechte sitzt seit 2011 als Vertreter der sozialdemokratischen CHP im türkischen Parlament und vertrat seine Partei dort in der Kommission zur Aufarbeitung des Putschversuchs vom Juli 2016. Bis vor einem Jahr war der heute 53-Jährige Vize-Chef der CHP. Geboren wurde Tanrikulu in der kurdischen Provinz Diyarbakr.