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Eine bittere Lektion für die Russen

Von Jan Richard

Politik

Als der "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan begann, erschien in den russischen Massenmedien eine Unmenge düsterer Prophezeiungen über dessen voraussehbaren katastrophalen Ausgang. Mittlerweile ist weitgehend betroffenes Schweigen eingekehrt und die russischen Militärs haben eine bittere Lektion gelernt, die nicht ohne Auswirkungen sogar auf die Außenpolitik Moskaus bleibt.


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Als die US-Luftschläge begannen und die ersten britischen und amerikanischen Spezialeinheiten auf den Flughäfen Usbekistans und Kirgisiens landeten, da marschierten in den Talk-Shows der russischen Fernsehsender reihenweise die ordenbehängten Afghanistan-Veteranen auf und gaben mit gewichtiger Miene und tiefer Stimme eine überaus pessimistische Einschätzung ab. In den russischen Zeitungen und Magazinen wurden die Seiten geradezu von eine Flut von Artikeln überschwemmt, die alle unisono prophezeiten, die Amerikaner würden in Afghanistan und in ihrem Kampf gegen die Taliban und die Terrornetzwerke der Al-Kaida ein "zweites Vietnam" erleben.

13.833 Tote

All diese Prognosen waren genährt von den bitteren Erfahrungen des verlorenen Krieges mit seinen (laut offiziellen Angaben) 13.833 Toten, den die Sowjetunion am Hindukusch in den vom Dezember 1979 bis Ende der 80er-Jahre ausfocht.

Der Tenor der Aussagen, zusammengefasst: In Afghanistan, in dem schon die mächtige sowjetische Armee und zuvor die Briten im 19. Jahrhundert schmachvoll gescheitert seien, würden sich auch die Amerikaner die Zähne ausbeißen und unweigerlich auf die Verliererstraße geraten. Oder wie es ein russischer Kommentator ausdrückte: "Afghanistan scheint speziell dafür erfunden worden zu sein, um den anmaßenden Yankees eine Lektion zu erteilen."

Afghanische Kriegsveteranen der sowjetischen Armee argumentierten, dass die USA auf ihre technologische Überlegenheit setzten, "aber die absolute Luftüberlegenheit ist in Afghanistan völlig zwecklos, wo es dort doch nichts zu zerbomben gibt und wo sich die fanatischen Talibankämpfer jederzeit in die Berge zurückziehen und verstecken können."

Daher war der allgemeine Tenor in den russischen Kommentaren (als der Luftkrieg begann), die USA würden damit sicherlich keinen Erfolg haben und früher oder später gezwungen sein, massive Operationen von Bodentruppen in Afghanistan zu starten, die alsbald in ausweglose Schwierigkeiten führen und schwere Verluste verursachen würden. Aber auch das kam bald anders, als die russischen Untergangspropheten es vorausgesagt hatten.

Alexander Golts hat im "Russkiy Journal" in einem Kommentar auf die möglichen Hintergründe und Motive dieser Meinungsmache hingewiesen: "Das ist einerseits dadurch erklärbar, dass die russischen Militärs noch immer ihrem ehemaligen Gegner aus der vierzigjährigen Konfrontation des Kalten Krieges eine Niederlage geradezu wünschen. Andererseits hätte ein amerikanischer Fehlschlag in Afghanistan wenigstens erklären geholfen, warum das russische Militär in einem geographisch viel kleineren Gebiet wie Tschetschenien nicht und nicht zum Erfolg kommt."

Erklärungssuche

Mit Betroffenheit und Staunen begannen die russischen Militärkommentatoren und Generäle so ab Ende Februar, Anfang März nach Erklärungen zu suchen, warum die US-Militärmaschinerie (zusammen mit der afghanischen Nordallianz) so relativ rasch zu einem Erfolg kommen konnte. Da wurde unter anderem die neue Informationstechnologie ins Treffen geführt, mit deren Hilfe jede Luft- oder Bodenoperation in Afghanistan bestens vorbereitet wurde. Der Einsatz einer Unzahl von Spionagesatelliten, von unbemannten und in niedriger Höhe fliegenden "Globalhwak" oder "Predator"-Aufklärungsflugzeugen und der ununterbrochene Datenfluss über den Feind, der dann nicht zu einer Kommandozentrale, sondern gleich zu den operativen Einheiten (seien es Bomber, Kampfhubschrauber, Artillerie oder Bodentruppen) weitergeleitet wird, sei eben die Basis der militärischen Erfolge.

In der Tat, so Augenzeugenberichte aus Afghanistan, ist nach der Sichtung eines Konvois der Taliban, eines Panzers oder einer auch noch so kleinen Truppenbewegung durch die amerikanischen Aufklärungsmittel innerhalb von spätestens 10 Minuten dieses "Ziel" auch schon aufgespürt, gestellt und vernichtet gewesen.

Die Aussage eines gefangenen Taliban-Kämpfers illustriert das deutlich: "Wir hatten den Eindruck, dass hinter jedem von uns ein amerikanisches Flugzeug persönlich her war." Der Einsatz modernster Bomben (Bunkerknacker, Vakuum-Bomben usw.) machte auch die so sicher geltenden Verstecke in Höhlen und Bergen letztlich zu einer tödlichen Falle und führte keineswegs zu einem "zweiten Vietnam" der USA und ihrer Verbündeten.

Zwar wird gelegentlich auch jetzt noch von offizieller russischer Seite eine Mahnung geäußert, wie es etwa Verteidigungsminister Sergej Iwanow bei seinem USA-Besuch Anfang März getan hat: "Ein großer Teil Afghanistans ist derzeit noch immer unter niemandes Kontrolle und der Krieg kann noch lange dauern. Wir haben immer gewarnt, dass wir nicht allzu optimistisch sein sollen. Es ist sehr schwer, in Afghanistan zu kämpfen: Gegen einen Feind, den man nicht sieht, der nicht organisiert scheint, aber sehr wohl organisiert ist. Es ist unmöglich, diesen Kampf ohne Verluste durchzustehen. Das ist eine Legende."

"Wie einst die Sowjetunion"

Und in der Regierungszeitung "Rossiyskaya Gazeta" war Mitte Februar noch zu lesen gewesen: "Jedenfalls ist es klar, dass sich die Amerikaner in Afghanistan auf demselben Weg befinden wie einst die Sowjetunion. Wir brauchen nicht daran zu erinnern, was am Ende dieses Weges stand."

Diese und ähnliche sporadische Aussagen hoher russischer Militärs oder Medienkommentare sind aber wohl vor allem für den "Hausgebrauch" gedacht. Denn die Soldaten und Offiziere der russischen Streitkräfte und nicht zuletzt auch die russische Öffentlichkeit zieht Vergleiche und stellt eine simple Frage: Wenn es möglich ist in einem so großen Land wie Afghanistan, von den Geländebedingungen durchaus vergleichbar mit Tschetschenien, erfolgreich und schnell terroristische Strukturen zu zerschlagen, warum gelingt das unseren bewaffneten Kräften in der rebellischen Kaukasus-Republik nicht? Liegt das etwa daran, dass seinerzeit weder die Armee noch die jetzt dort im Einsatz befindlichen Spezialeinheiten des Inlands- und des Militärgeheimdienstes (FSB und GRU) über jene Mittel und Fähigkeiten verfügten, über die amerikanische Spezialeinheiten selbstverständlich disponieren können? Was läuft da falsch? Warum sind wir so unfähig?

Die durchaus einleuchtende Antwort darauf sickert in gelegentlichen Analysen in den russischen Militärmedien indirekt durch. Als mögliche Gründe werden angeführt: Die Panzer, Kampfhubschrauber, Flugzeuge, Bomben, also die ganze militärische Hardware der russischen Streitkräfte ist technisch veraltet. Was von den russischen Rüstungsfirmen geliefert wird, ist nicht das, was die Armee braucht, sondern was die Firmen eben produzieren können und was sie gewohnt sind, zu produzieren. Es wird bestenfalls modernisiert, aber nichts Neues erfunden. Deshalb gerät auch der nach Öl und Gas zweitwichtigste Exportzweig Russlands, nämlich die Waffenindustrie, auf den Weltmärkten immer mehr ins Hintertreffen.

In einem Bericht des Korrespondenten Sergei Bitsojew in der "Novye Izvestia" wird der technologische und auch in der Führung offensichtliche Rückstand geradezu exemplarisch beschrieben: "Nach dem Zweiten Weltkrieg ist vielleicht keine andere Stadt mehr verwüstet worden als die tschetschenische Hauptstadt Grozny. Sicher, die Amerikaner haben auch Kabul bombardiert, aber die Fehltreffer waren vergleichsweise gering und meist traf es nur Ziele, wo es auch tatsächlich Taliban gab. Grozny hingegen ist durch unsere Bomben dem Erdboden gleichgemacht worden. Als Kandahar, die letzte Taliban-Hochburg überrannt wurde, stießen dreißig Panzer auf die Stadt vor, also nach russischen Vorstellungen so gut wie nichts. Kein einziger brannte durch Feindbeschuss aus. Wir kämpften uns gegen Grozny mit hunderten von Panzern vor und mehr als die Hälfte fielen aus."

Anders als bei den US-Streitkräften (und nicht nur in Afghanistan) ist die reibungslose und automatisierte Weitergabe von Aufklärungsergebnissen über den Feind und den operativen Kampfeinheiten bei den russischen Streitkräften nicht einmal ein Thema. Alles läuft wie gehabt: Rückmeldung an das Hauptquartier, dort mehr oder minder schnelle Beschlussfassung, Erteilung eines Einsatzbefehls usw. Das erlaubt kein schnelles und präzises Reagieren, das dem Feind keine Zeit lässt. Fazit: Führung und Taktik der russischen Streitkräfte sind noch nicht aus den alten Denkschemata der sowjetischen Militärs herausgekommen.

Putins nüchterner Blick

Wenn es stimmt, was offizielle, aber auch informelle Quellen in Moskau andeuten, dann hat der russische Präsident Wladimir Putin aus der Kenntnis der offenkundigen Schwächen Russlands (vor allem im wirtschaftlichen, aber auch im militärischen Bereich) einen entscheidenden Schluss für die russische Außenpolitik gezogen: Sie soll nicht Positionen zu erreichen (oder auch zu befestigen oder zu verteidigen) suchen, die aufgrund der wirtschaftlichen und militärischen Defizite ohnehin nicht erreichbar sind oder die früher oder später mit Gesichtsverlust aufgegeben werden müssen.

Putin, der ehemalige KGB-Offizier, scheint sich also den nüchternen und leidenschaftslosen Blick auf die Schwächen und Stärken seines Landes auch im Präsidentenamt bewahrt zu haben und unterscheidet sich damit deutlich von seinem Vorgänger Boris Jelzin.

Und neben der wirtschaftlichen Schwäche (Russland erwirtschaftet in etwa das Bruttosozialprodukt Hollands) gibt es auch eine eklatante Schwäche im militärischen Bereich, ungeachtet der nach wie vor vorhandenen nuklearen strategischen Triade zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Das lässt sich an nüchternen Zahlen belegen. 1992 hatte Russland noch 2,8 Millionen Mann unter Waffen, heute sind knapp eine Million, eine Zahl, die nächstes Jahr neuerlich um 350.000 Mann reduziert werden wird. Das Militärbudget, das von Experten auf 100 Milliarden US-Dollar im letzten Jahr der Sowjetunion beziffert wurde, liegt heute bei offiziellen 7,3 Milliarden US-Dollar (oder zwei Prozent dessen, was die USA dafür ausgeben).

Nach den Worten des bekanntesten russischen Militärexperten Pavel Felgenhauer "befindet sich die russische Armee in einem Stadium der ständigen Degeneration. Nicht einmal die Disziplin kann aufrecht erhalten werden, ganz zu schweigen von Gefechtsbereitschaft. Die Mehrheit der Ausrüstung ist schon in einem Zustand, dass sich weder Modernisierung noch Instandsetzung lohnt."

Aus all dem zieht Felgenhauer den Schluss: "Russland wird seine globalen militärstrategischen Aspirationen aufgeben müssen." Und in einem Kommentar der angesehen "Nezavismaya Gazeta" hieß es jüngst ganz ähnlich: "Es ist ein Faktum, über das sich nicht mehr diskutieren lässt: Russlands Streitkräfte sind keine organisierte Kraft, die auf irgendeiner Ebene mit Armeen der industriell fortgeschrittenen Staaten in einem konventionellen Krieg eine längere Zeit bestehen könnte. Russland verfügt über keine kampfbereite militärische Organisation, weder für einen konventionellen Krieg noch für die Sicherheitsaufgaben des 21. Jahrhunderts, also dem Kampf gegen den Terrorismus beispielsweise."