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"Mit fünfzig hänge ich mich auf", hatte die Nandl gesprochen, versprochen und gedroht. Aber hörte ich diesen brachialen Satz mit kaum drei Jahren wirklich aus ihrem Mund? Oder kam er mir später, als die Tanten darüber spöttelten, worin ein Hauch von Schadenfreude zu liegen schien, zu Ohren? Die brutalen Worte sind jedenfalls meine erste Erinnerung an diese Frau aus dem Volke, die gottlob nie von einem Strick herunterhing.
Als ich zur Welt kam, war die Nandl schon länger unter den Menschen. Damals, in den späten 70er Jahren, wohnte sie, wie ihr ganzes Leben lang, in jenem Haus in der Senke, wo sie auch schon das Licht der Welt erblickt hatte. In einer klirrend kalten Dezembernacht im Jahr 1930 in kleine Verhältnisse hineingeboren, wie man großspurig sagt, wuchs sie in bitterer Armut auf. Der Vater, der aus einer alteingesessenen Bauernfamilie stammte, hatte alles verkauft und das Geld durchgebracht. Immerhin besserte der unverbesserliche Lebemann, der zeitlebens vom großen Glück träumte, den kargen Unterhalt der Familie durchs Milchausfahren auf, denn die Feldingers fristeten ihr Dasein als einfache "Häuslleut", wie man in dieser Gegend die Kleinhäusler nannte.
Ganze Wirtshäuser soll der Vater, der auch das Elternhaus seiner ersten Frau verscherbelt hatte, unterhalten haben, und man erzählt sich, dass er nach der Geburt der Nandl, seines einzigen Kindes, ins Dorf ging, um die frohe Botschaft zu verkünden, dass ihm ein Sohn geboren worden sei. Weil er Freudenschüsse, die nur für männliche Säuglinge abgegeben wurden, hören wollte, hatte dieser Schalk den Dorfbewohnern einen Buben aufgebunden.
Ein Kind mit Fantasie
Bevor die Nandl aber richtig denken konnte, war der Vater auch schon tot. Bettelarm lebten das kleine Mädchen und ihre alleinstehende Mutter fortan von der Hand in den Mund, bis es einmal am Fenster klopfte. Ein Mann war gekommen, um das in der Not zum Verkauf stehende Rindvieh zu besichtigen. Die Kuhschau wurde zur Brautschau, und die Nandl hatte einen neuen Vater, der sie wie sein eigenes Kind liebte. Als "fantasiebegabtes Kind", wie sie sagt, wurde sie größer, wenn die Ferien begannen, war sie traurig, und erst recht weinte sie, als das Geld nicht reichte, um den Autobus zur Hauptschule im Markt zu bezahlen. Acht Jahre Volkschule im Dorf, das war alles, bevor der Ernst des Lebens beginnen sollte. Nun schlug die fromme Tante, eine Schneiderin, vor, das "Dirndl" solle bei ihr in die Lehre gehen. "Da musste ich", erinnert sich die Nandl, "innerlich fürchterlich lachen."
So blieb sie lieber zu Hause, fing an zu lesen, zunächst leichte, dann mit Schopenhauer, Nietzsche, Sartre allmählich schwerer verdauliche Kost, und spann fleißig ihre eigenen Gedanken dazu. Den Hang zum Philosophieren, mit dem man in der bäuerlichen Welt freilich nur Kopfschütteln erzeugte, hatte ihr wohl der Vater in die Wiege gelegt. Die Mutter wurde jedenfalls nicht müde, dafür zu beten, dass die Tochter nicht werde wie dieser unselige Mann, der viel Unglück über sie gebracht hatte.
Nach einigen Jahren wurde Nandl die Narrenfreiheit leid und heuerte als Magd auf dem Wagnergut, der Landwirtschaft meiner Großeltern, an, wo man eine Arbeitskraft dringend brauchte. Dort ging sie mit ebenso viel Fleiß ans Werk, wie sie für das Gedankenspinnen verwendet hatte, sie stand im Morgengrauen auf und legte sich am späten Abend mit den Amseln schlafen.
"Mit fünfzig hänge ich mich auf", hallten ihre Worte später wieder nach. Als ich schon "Puschel dem Eichhorn" auf seinen Abenteuern durch den Wald folgte und die Nandl ihr Sterbedatum um Jahre überlebt hatte, verstand ich die Botschaft dieses Satzes, der mich verstörte und bis heute irritiert, immer noch nicht. Aber froh war ich, dass die Nandl nicht an einem Strick auf ihrem Dachboden hing, sondern zum Melken in den Stall und zur Heuarbeit aufs Feld ging. Sie gehörte zum Wagner wie die Kälber in den Stall und blieb, bis man ihr eine künstliche Hüfte einsetzte, im Magddienst.
Ein Verkaufstalent
Dazwischen kümmerte sie sich um ihre altersschwache Mutter, pflegte sie bis zum Tod im eigenen Haus. Einen kurzen Abstecher wagte sie, reichlich mit Verkaufstalent gesegnet, in die Vertreterbranche. Da tingelte sie, freilich ohne Lizenz, eine Weile mit Versehgarnituren, Rosenkränzen und Kerzenleuchtern durchs Land, bis ihr ein gewissenhafter Gendarm, dem sie versehentlich ihre Versehware angeboten hatte, das Handwerk legte.
Traurig war sie darüber nicht, denn für materielle Dinge hatte sie ohnehin nie etwas über. Ihr Haus, das sie nur selten, etwa für Reisen in den afrikanischen Busch oder zu den kanadischen Seen, länger verließ, ist vom Einsturz bedroht, ihre Lebensweise ist die einer anderen Zeit: Keine Toilette, kein Kühlschrank, keine Waschmaschine. "Wenn das Haus zusammenfällt, hast du dein Grab, und wir machen das Begräbnis gleich hier", scherzte der Pfarrer des Dorfes. Dass sie in der Kirche nur das Vaterunser laut mitbetet, wie ich beobachtet habe, ist ihm wohl entgangen. "Das Glaubensbekenntnis bringe ich gar nicht zusammen", sagt die Nandl, der die Frömmigkeit über die Jahre abhanden gekommen ist. "Der Glaube versetzt Berge. Und wer versetzt den Glauben?", fragt sie sich heute.
Aus Gewohnheit, und wohl auch aus Pflichtgefühl, geht sie trotzdem Sonntag für Sonntag zur Kirche ins Dorf, schwatzt mit den Leuten und hat an den Schicksalen der Anderen teil. "Unter den Juden bin ich wie ein Jude, unter den Heiden bin ich wie ein Heide", schüttelt sie dazu auch ein abgewandeltes Pauluszitat aus dem Ärmel. "Im Dorf bin ich aber in keinem Verein integriert", verrät sie, mit ihrem Anderssein spielend. Hier lebt sie nur, zu Hause ist sie freilich in ihrem labyrinthartigen Gedankengebäude, das sie sich zurechtgezimmert hat. Freimütig gibt die Nandl zu, dass sie sich bisweilen selbst darin verirrt: "Ich bin mir meiner Störungen schon bewusst."
Gesammelte Gedanken
Manche Gedanken hat sie fein säuberlich notiert, der Ton erinnert an die Sprache der Psalmen. "Stellt euch vor, die Perlen wären nur noch rund", stellt sie etwa fragend in den Raum. Zuweilen klagt sie an, hinterfragt die Geistlosigkeit der Zeit und ihrer Genossen: "Der Eile nach zu schließen, müsst ihr große Ziele verfolgen." Oder: "Wenn man mich nach einem Symbol für unsere Zeit fragen würde? Der Aufgeblasenheit nach zu schließen, würde ich sagen, ist es der Luftballon." Dann spendet sie Trost: "So gebt doch die Hoffnung nicht auf! Auch ihr werdet noch Blüten tragen, wenn ihr auch erst im Stängel beheimatet seid!"
Dass die Menschen über die Steine, die sie sich selbst in den Weg legen, stolpern, tut der Nandl weh. Die gegenwärtige unsichere Wirtschaftslage, die etwas voreilig als Krise bezeichnet werde, ist für sie hausgemacht. Wenn es nach ihr ginge, müsste man sogar Arbeitsplätze vernichten, anstatt neue zu schaffen. Ihre einfache Formel lautet: Arbeit = Ressourcenvergeudung + Umweltverschmutzung. "Jeder sollte haarscharf das tun, was er will, was ihn wirklich freut", schlägt die Nandl provokant vor, aber sie meint das ernst. Es nimmt naturgemäß kaum wunder, dass man im Dorf stets munkelte, die Kommunisten verdankten ihr die einzige Stimme, die sie bei den Wahlen regelmäßig errangen.
Was ihr gerade in den Kram passte, probierte die Nandl in ihrem Leben aus, auch die eine oder andere Droge. Gewissenhaft studierte sie die Götter und die Männer. Heute begreift sie sich, ganz in der Tradition Søren Kierkegaards, als "christliche Anarchistin" und wendet sich gegen Kirchenmoral und gesellschaftliche Dogmen. Nur der Anarchismus ist für sie mit den Lehren Jesu vereinbar: "Wir müssen die Bretter in den Hirnen, die Zäune im Denken wegreißen", fordert sie. Dem Konzept der Endlichkeit steht sie skeptisch gegenüber. "Es ist anzunehmen", nimmt die Nandl an, "dass unsere Gedanken hinausgehen, nicht verloren sind, sich verknüpfen mit anderen Gedanken, die diese Strukturen auch aufweisen."
Dass die Energie einfach verpufft, wenn man das Leben aushaucht, ist für die Nandl undenkbar. Sie glaubt insgeheim auch an die Wiederkehr und hat dafür eine komplexe Erklärung: "Ich glaube an meinen eigenen Himmel und kenne Leute, die einen Film drehen würden, wenn sie in diesen kämen. Andererseits würde ich selbst, wenn ich in deren Himmel käme, auch einen drehen. Sollte es tatsächlich einen Gott, einen ewigen Richter geben, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft, so könnte es trotz allem noch zu Komplikationen kommen. Wenn ich von hier weggehe, kann ich insofern Probleme bekommen, als ich mich nicht so kenne, wie ich mich zu kennen glaube. Man war doch weder in den eigenen Kellerräumen noch im eigenen Dachboden, wo Dinge lagern, von denen wir nichts wissen. Man hat in seiner Mittelschicht gelebt und geglaubt, es wäre das Leben. Man hat aber nicht geschaut, was sich im Unbewussten befindet, was das Sterben ist oder was einem Ängste einjagen würde. Es könnte sein, dass einem nach dem Tod klarer wird, was der gesamte Mensch ist und dass man versteht. Erst dann sieht man, was - nicht im Sinne der Moral der Kirche, sondern im Hinblick auf Weltethos oder wie man es nennen will - nicht in Ordnung war. Wenn ich doch so schwer gegangen bin und gerne noch vierzehn Tage gelebt hätte, kann es doch nichts anderes geben, als dass ich wieder komme."
Ihre Lebensweisheiten gab die Nandl als Iovanka aus der Provinz, welche für sie freilich nur im Kopf entsteht, in dem surrealen Stück "Wir hüpfen nur aus Höflichkeit" von Josef Maria Krasanovsky im Wiener Theater in der Gumpendorferstraße von sich. Man projizierte ihr Antlitz auf die Rückseite des Philosophen Jean-Paul Sartre. Als "Frau aus dem Volke", wie sie sich selbst nennt, möchte sie aber ein einfacher Mensch bleiben, der das eine oder andere noch glaubhaft vermitteln kann.
Sie wird dies, so habe ich den Eindruck, noch lange können. Denn anders als meine Urgroßmutter, die mir mit ihren schlohweißen Haaren und dem dritten Bein immer steinalt erschienen war, und anders als meine wehklagende Großmutter, die seit Jahr und Tag unter der Last ihres Lebens ächzte, kommt die Nandl, wiewohl Sonne, Wind und Wetter ihre dunkle Haut gegerbt haben und das Leben tiefe Furchen in ihr beredtes Gesicht gegraben hat, wie eine Frau ohne Alter daher. Und auch ihr Haar, das sie niemals färbt, ist noch nicht ergraut. Auf ihrem Totenbild, so wünscht es sich die Nandl, sollen wir, wenn es einmal doch soweit ist, die folgenden Worte von Goethes Mephisto schreiben: "Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung."
Georg Christoph Heilingsetzer, geboren 1977 in Linz, arbeitet als Psychologe sowie als freier Autor und Filmemacher. Er lebt in Wien und am Irrsee (Oberösterreich).