Zum Hauptinhalt springen

Eine clevere Partnerschaft mit Auswirkungen auf Österreich

Von Roland Benedikter und Katja Siepmann, WZ Online

Gastkommentare

Bilanz eines Staatsbesuchs.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

 Der Staatsbesuch von Chiles Präsidentin Michelle Bachelet in Deutschland vom 27.-28. Oktober 2014 wurde in Österreich wenig beachtet. Dabei war er eine der wichtigsten Weichenstellungen für europäisch-lateinamerikanische Zusammenarbeit und Zukunftsplanung der vergangenen Jahre - die unweigerlich auch Österreich betreffen wird.

Der Besuch hatte unüblich klare Ziele - zum Vorteil beider Seiten. Selten gab es in der neueren Geschichte bilateraler Beziehungen so lupenreine gegenseitige Interessen und eine so klare Gewinn-Situation aller Beteiligten wie in der neuen Beziehungsphase zwischen Deutschland und Chile. Die Beziehung beider Länder könnte in den kommenden Jahren sogar ein Beispiel für die gelingende Bewältigung wachsender gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Kontinenten werden - auch und gerade zwischen weit entfernten Ländern, unabhängig von ihrer Größe und nominalen Wirtschaftskraft. Warum?

Was hat der Besuch gezeigt?

Auf der einen Seite braucht Deutschland Chiles Ressourcen, vor allem Kupfer, Lithium und andere Rohstoffe für seine endlich ernsthaft vorausschauende strategische Ressourcensicherung, die es lange sträflich vernachlässigt hat. Erstaunlicherweise ist das kleine Chile mit seinen 16 Millionen Einwohnern bereits heute Deutschlands weltweit wichtigster Rohstofflieferant. Davon ist Österreich direkt mit betroffen. Eine langfristige strategische Partnerschaft, die Ressourcen auf Jahrzehnte im Voraus sichert, ist also im Interesse des europäischen Exportweltmeisters - gerade in weltpolitisch unruhigen Zeiten. Österreich, eng mit Deutschlands Industrie verwoben, wird davon in Zeiten einer industriell in den "Hardware-Faktoren" nicht besonders rosig aussehenden Zukunft ebenso profitieren.

Chile dagegen braucht deutsche Hochtechnologie, um die nächste Stufe seiner wirtschaftlichen Entwicklung zu nehmen und die Qualität seiner Produktion zu steigern. Es braucht das deutsche duale Ausbildungssystem, um die sozialen Widersprüche zwischen arm und reich zu lindern und das überlastete und zu teure Erziehungssystem, das zu viele arbeitslose Akademiker und zu wenig Handwerker und international konkurrenzfähige Fachkräfte produziert, breiter aufzustellen. Ziel ist es, einen echten Mittelstand zu einem wesentlichen Resilienzfaktor einer Gesellschaft zu etablieren, die bisher kaum eine soziale Mitte kennt und daher ständig von Instabilität bedroht ist.

Es geht jetzt nicht mehr nur um Megaprojekte deutscher Weltmarktführer wie AEG oder Siemens im Energiebereich, sondern es sollen ab nun vor allem auch klein- und mittelständische Betriebe beider Länder in unterschiedlichsten Anwendungsbereichen über den Atlantik hinweg kooperieren. Da die Entfernung groß ist, wird sich Chile das durchaus etwas kosten lassen, ebenso wie den Import mitteleuropäischer Ausbildung und Universitätskultur. Dazu hat das Land eine massive Investitionsoffensive gestartet, die auch Österreichs zuletzt eher stagnierenden Universitäten neue Impulse geben könnte.

Nicht zuletzt, und hier schliesst sich der Kreis, benötigt Chile im Bereich der Ressourcenextraktion grüne Technologie und Nachhaltigkeit, um das Land nicht wie bisher unverhältnismässigen Belastungen auszusetzen und die Akzeptanz des Rohstoffabbaus in der Zivilgesellschaft zu stärken. Das ist ein besonders heikles Thema, denn die rasch wachsende chilenische Umweltbewegung hat in den vergangenen Jahren mit ihren Massenprotesten bereits mehrere prestigereiche Großprojekte zu Fall gebracht, so etwa Anfang Juni 2014 das Staudammprojekt HydroAysén, das zwei Flüsse und zwei Stauseen in einen einzigen riesigen Energieproduzenten verwandeln sollte. Da Österreich als einer der wichtigsten Partner Deutschlands auch hier besondere Expertise mitbringt, liegt eine Mitarbeit nahe.

Auf den ersten Blick ist die Beziehung also eine reine Gewinnsituation, und die unterzeichneten Abkommen sind zum Nutzen aller Partner – und zwar nicht nur kurzfristig, sondern langfristig. Das tut angesichts der üblichen kurzsichtigen Wahlperiodenfixierung geradezu wohl. Österreich kann von den europäischen Projekten in Chile ebenfalls profitieren, da es in mehreren Bereichen wie Umwelt, duales Ausbildungssystem von Fachkräften und politische Partizipation Stärken hat, die durchaus exportierbar sind. Doch es gibt auch Widersprüche - und zwar auf beiden Seiten des Atlantik.

In Chile könnte die mit deutscher Hilfe weiter gesteigerte Ressourcenextraktion trotz des Mitbringsels Energieeffizienz unterm Strich dazu beitragen, einerseits die Umwelt weiter zu zerstören und den Energiebedarf zu steigern; andererseits den "Ressourcenfluch" fortzusetzen, das heisst die Konzentration großer Teile der Wirtschaft auf den "niedrig intelligenten" Verkauf von Rohstoffen statt auf die "hoch intelligente" Diversifizierung der Produktion zu legen. Das würde bedeuten: Chile würde weiterhin seine Rohstoffe ins Ausland schicken, um sie dann zu Produkten verarbeitet teuer wieder einzukaufen, statt alle Anstrengung darauf zu legen, sie selber zu produzieren.

Deutschland dagegen ist durch die Konzentration auf das wechselseitige Interessensarrangement dazu verführt, Entwicklungszusammenarbeit zu stärkerem demokratiepolitischem und sozialem Ausgleich zwischen arm und reich mit Chile, also dem Land mit der nach wie vor größten sozialen Ungleichheit aller OECD-Länder weltweit, durch bloßen Transfer von Know-how und Technologie zu ersetzen. Dabei wird eine wesentliche Komponente guter Kooperation, nämlich Interesse an den best practice Beispielen der anderen Gesellschaft, tendenziell verdrängt, wozu auch die Demokratiepraxis gehört. Diese Verführung: Resourcen und Technik statt Demokratieerfahrung im Austausch mit Südamerika gilt auch für Österreich.

Von einer "unfertigen" zur Volldemokratie

Fazit? Chile muss von der rein extrahierenden Industrie wegkommen, weil diese trotz aller Abfederungsbemühungen unweigerlich zu immer größeren Umweltproblemen und vor allem zu sozialen und räumlichen Ungleichheiten führt, und es muss seine Demokratie von einer "unfertigen" in eine "Volldemokratie" überführen - ein Werk, das die Regierungen nach Pinochet seit 1990 begonnen haben und das nun fertiggestellt werden muss. Deutschland dagegen darf seine Rolle als Vorbild für Nationen, die sich wie das "Chile im Übergang" der Regierung Michelle Bachelet II auf allen Gebieten zugleich und in kurzem Zeitraum reformieren wollen, nicht vergessen. Österreich sollte ebenfalls nicht Handel über Hilfe bei demokratiepolitischen Reformen stellen, sollte beide gleichermassen gewichten.

Das bedeutet letztlich: Beide Seiten, die "Schweiz Südamerikas" auf der einen Seite und die deutschsprachigen Gewinnerländer des Euro auf der anderen Seite müssen mehr wie der andere werden. Chile muss zu einem Produzenten auf dem Niveau von Deutschland und Österreich werden und seine Gesellschaft am europäischen Beispiel partizipatorischer und durchlässiger machen. Deutschland und Österreich sollten sich vom umfassenden sozialen Reformeifer und der allgemeinen Aufbruchstimmung im Andenstaat neu anstecken lassen. Dabei sollten mögliche parteipolitische Differenzen zwischen der sozialistischen Regierung Bachelet und der "Groko" Merkels keine Rolle spielen und eventuell unter Vermittlung der österreichischen Regierung abgefedert werden.

Gerade wegen der Vorteile der Zusammenarbeit sollten alle drei Nationen insgesamt also stärker als bisher nicht nur in Arbeitsteilung im Rahmen eines "Geschäftsmodells" der Komplementarität, sondern in gemeinsame Entwicklung investieren. Das setzt gegenseitiges Lernen voraus. Dieses sollte vor der gegenseitigen Bedienung von Interessen in den kommenden Jahren mutig den Vorrang erhalten.

Roland Benedikter forscht am Orfalea Zentrum für globale und internationale Studien der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, ist Mitautor zweier White papers für das Pentagon und den U.S.-Generalstab, Senior Scholar des Council on Hemispheric Affairs Washington DC (führender liberaler Think-tanks zu Lateinamerika in den USA) und Vollmitglied des Club of Rome.
Katja Siepmann ist Lehrbeauftragte an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, Forscherin am Marktforschungsinstitut Opina in Santiago de Chile und Senior Scholar des Council on Hemispheric Affairs Washington DC. Beide haben über Chile in Fachzeitschriften wie "Foreign Affairs", "Harvard International Review" und "Challenge" publiziert und sind Autoren des Buches "Chile: A Nation in Transition", der umfassendsten Länderstudie über Chile in englischer Sprache seit mehr als einem Jahrzehnt, im Springer Verlag New York.