Österreichs evangelisch-lutherischer Bischof über politische Fehler in der Pandemie und ein nicht normales Weihnachtsfest.
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Masken und Abstand statt großer Weihnachtsoratorien, ein Einkaufssonntag am vierten Advent und ein öffentlicher Streit über eine Covid-Impfpflicht: So hat sich Michael Chalupka (61) sein drittes Weihnachtsfest als Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich sicher nicht vorgestellt. Aber auch wenn er Fehler und Versäumnisse im politischen Umgang mit Corona ortet und sich dafür eine Entschuldigung der Verantwortungsträger wünschen würde, betont er im Interview den christlichen Versöhnungsansatz. Und er schildert, wie seine Kirche zukunftsfit werden will.
"Wiener Zeitung": Herr Bischof, die evangelische Kirche in Österreich startet einen Entwicklungsprozess mit "Erprobungsräumen". Inwieweit kann man das mit der Strukturreform in der katholischen Erzdiözese Wien vergleichen?
Michael Chalupka: Es ist keine Strukturreform, sondern es ist ein Prozess, der die Kirche zukunftsfähig machen und Potenziale an der Basis heben will. Wir gehen davon aus, dass unsere Pfarrgemeinden sehr lebendige geistliche Zentren sind, in unterschiedlicher Weise, und wir haben sie jetzt eingeladen, das noch mehr zu gestalten. "Erprobungsraum" meint, dass wir für die nächsten drei Jahre eingeladen haben, sich mit bestimmten Projekten zu bewerben. Wir schauen, was auf der Basisebene Besonderes da ist an geistlichem Leben, was man gesellschaftlich beitragen kann. Da stehen wir jetzt am Anfang. Wir wollen aus diesen drei Probejahren Modelle gewinnen, die dann multipliziert werden können, wo man voneinander etwas lernen kann. Und dann kann es sein, dass auch an den Strukturen geschraubt werden muss.
Warum braucht es das überhaupt?
Das Problem des Pfarrermangels haben wir ja nicht. Aber es ist eine Reaktion auf eine sich verändernde Landschaft, wir verlieren ja auch Mitglieder - was aber heißt, dass wir von einer Kirche, zu der man aus Gewohnheit gehört hat, zu einer werden, für die man sich sehr bewusst entscheidet.
Bitte um ein paar Beispiele.
Ich nehme jetzt regional vier verschiedene Projekte heraus. Zum Beispiel entwickeln in Wien mehrere Pfarrgemeinden gemeinsam ein Café als Angebot für Menschen mit Demenz und deren Angehörige. Oder in Salzburg gibt es einen offenen Raum für Jugendliche. Im Burgenland haben sich in jener Region, wo die meisten Evangelischen leben, nämlich im Bezirk Oberwart, die Pfarrgemeinden zusammengetan und entwickeln einen Prozess, wie sie mehr Kraft ins geistliche und soziale Leben vor Ort stecken können, indem sie etwa bei der Administration Ressourcen bündeln. Wir müssen wegkommen von einer Kirche, die Gebiete verwaltet, hin zu geistlichen Zentren des Lebens. Und ich glaube, dass wir dringend Gemeinschaften brauchen, wo Menschen eine Heimat finden können, die aber offen sind und sich nicht durch die Abgrenzung gegenüber anderen definieren. Und davon haben wir in Österreich noch zu wenige. Das zeigt auch die Pandemie, dass es für die gesamte Gesellschaft schwierig ist, wenn man bestimmte Bereiche abtrennt und sich gegenseitig als Gegner sieht. Unser Modell von kirchlicher Gemeinschaft ist hingegen eines, das dialogfähig ist und einen Beitrag als Minderheitenkirche zum Pluralismus in Österreich darstellt.
Sie haben die Pandemie angesprochen. Vermutlich sind auch in der evangelischen Kirche viele Gemeinden auf ihren Kern zusammengeschmolzen. Ist viel verloren gegangen?
Man kann es natürlich auch positiv sehen, denn dieser Kern hat sich als sehr tragfähig erwiesen. Und wir reden ja nicht von fünf Leuten, sondern von zweihundert oder dreihundert, die aufeinander schauen. In Simmering hat das zum Beispiel von der Pfarrgemeinde auch in die Schulen ausgestrahlt. Da haben die Schülerinnen und Schüler Briefe an die Bewohner der Senioren- und Pflegeeinrichtungen im Bezirk geschrieben. Solche Beziehungen sind in einer Pfarrgemeinde ganz normal, dass man schaut: Wer fehlt im Gottesdienst und warum? Wer braucht etwas? Das hat sich sehr bewährt. Andererseits wird es schon darum gehen, den anderen, die bisher nicht so aktiv am Gemeindeleben mitgewirkt haben, transparent zu machen, was das für ein Reichtum sein kann. Wo wir viel gelernt haben, das war die Digitalisierung der Kirche. Das war nicht nur ein Ersatz, ein Surrogat für Nicht-Präsenz, sondern da haben sich auch Formen daraus entwickelt, die ich gar nicht für möglich gehalten hätte. Da haben wir jetzt zum Beispiel eine Pfarrerin mit einem besonderen Verkündigungsauftrag in den Sozialen Medien. Das sind ganz neue Formen, die über den regionalen Zusammenschluss hinausgehen. Aber auch da entsteht verbindliche Gemeinschaft. Und als die basisdemokratischste Religionsgemeinschaft in Österreich haben wir auch von den digitalen Möglichkeiten profitiert, was diverse Formen der Kommunikation betrifft, dass man eben nicht mehr für einen synodalen Ausschuss von Wien nach Innsbruck reisen muss. Da wird sicher einiges bleiben, genauso wie diese neue Form der virtuellen Gemeinschaftsbildung, weil sie auch eine persönliche Ansprache via Social Media ermöglicht. Da kann man sich dann der Pfarrerin zuwenden, der man am liebsten folgt, auch wenn sie hunderte Kilometer weit weg ist.
Da steht dann der Wiener Pfarrer in Online-Konkurrenz mit dem Berliner Pastor.
Ja, das ist auch eine neue Erfahrung. Wir dürfen aber nicht das Internet oder Social Media als Werbung verstehen, das ist sinnlos. Was mich dabei beeindruckt, ist, dass es nicht an der Oberfläche bleiben muss. Dass da auch eine tiefe Seelsorge möglich ist und Menschen sich dann auch einer physischen Pfarrgemeinde anschließen und sich daraus persönliche Beziehungen entwickeln. Und ich erlebe auch bei den sogenannten Digital Natives ein Bedürfnis nach analoger, physischer Begegnung.
Ist der Ethikunterricht eine gute Ergänzung zum Religionsunterricht oder kannibalisiert er ihn?
Ich glaube, es ist wichtig und gut, dass jetzt alle Schülerinnen und Schüler eine fundierte Ausbildung in ethischen Fragen und Argumentationen bekommen. Da sehe ich kein Gegeneinander. In den evangelischen Curricula haben wir immer darauf geschaut, dass die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in einer pluralistischen Weise Teil des Religionsunterrichts war und ist. Das ist eine wichtige Aufgabe für uns als Kirche.
Konfessioneller Religionsunterricht hat ja stets den Beigeschmack, dass er nicht neutral ist.
Ich sehe das als Vorteil. Es gibt überhaupt keinen neutralen Unterricht, und im konfessionellen Unterricht wird die Grundvoraussetzung, mit der ich da hineingehe, ausgeschildert und transparent gemacht. Das wäre sonst vielleicht nicht der Fall.
Für den Wiener Superintendenten Matthias Geist ist der bevorstehende Einkaufssonntag ein "völlig unverständlicher Kniefall vor dem Handel". Sie selbst haben ja beim Karfreitag einen Feiertagsabtausch vorgeschlagen. Da könnte man sagen, dass es das durch das Ausfallen des Einkaufsfeiertag am 8. Dezember je gewissermaßen ist.
Ich denke, es ist wichtig, zu sehen und auch dabei zu bleiben, dass es heuer eine besondere Situation ist. Was ich nicht möchte, ist, dass es zum Einfallstor wird für einen allgemeinen freien Sonntag. In diesem Jahr haben wir uns dafür entschieden, einerseits darauf hinzuweisen, dass es der einzige bleiben soll, und andererseits gibt es in vielen Pfarrgemeinden Abendgottesdienste - ich feiere selbst einen in der Stadtkirche im 1. Bezirk - als Angebot vor allem für die Handelsangestellten, die sonst keine Chance hätten, am vierten Adventsonntag in den Gottesdienst zu gehen. Mir ist es wichtig, mit einer Idee zu reagieren und nicht bloß zu protestieren. Aber da sind wir uns mit den Gewerkschaften einig, dass es eine Ausnahmesituation ist.
Welches Zeugnis stellen Sie der Bundesregierung für die vergangenen zwei Jahre aus?
Ich bin nicht derjenige, der ein Zeugnis ausstellt - das hat sich die Regierung ohnehin selbst ausgestellt. Es wäre aber wichtig, dass die, die Verantwortung getragen haben und sie auch jetzt tragen, selber benennen, warum es jetzt anders weitergehen muss. Es sollte eine Richtungsänderung geben, weg von einer sehr PR-zentrierten und umfragegetriebenen Politik hin zu einer, die das Gemeinwohl im Auge hat. Gerade in der Pandemiesituation wäre für viele so etwas wie eine Entschuldigung wichtig für Fehler, die gemacht wurden - sonst wären wir nicht da, wo wir sind. Das hat es in Ansätzen gegeben, aber da sollte noch mehr kommen. Und wo sich die Politik einer privaten Initiative anschließen sollte, die es bereits gibt: Es braucht Raum für die Trauer um die Opfer der Pandemie. Man sollte sich auch davon verabschieden, die Schuld immer jemand anderem zu geben: den Ungeimpften oder wem auch immer. Denn lernen kann man nur - und der neue Bundeskanzler bezeichnet sich auch selbst als Lernenden -, indem man Fehler und Versäumnisse aufarbeitet und klar benennt.
Wie stehen Sie als Theologe zur Impfpflicht?
Unser Grundsatz als evangelische Kirche lautet: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Da ist beides drinnen: die Selbstliebe, der Selbstschutz - aber auch der Schutz des Nächsten. Das waren von Anfang an unsere zwei Maximen. Die einen sagen, sie schützen mit der Impfung sich selbst und andere, deshalb bin ich auch geimpft und befürworte die Impfung. Wer das nicht will, muss andere Wege finden, auch alle anderen zu schützen - und das sind schwierige Wege. Nur das eigene Menschenrecht zu sehen, nur auf die eigene Unversehrtheit zu pochen, finde ich schwierig. Wir erleben eine gewisse Privatisierung, eine Individualisierung des Menschenrechtsgedankens. Aber gerade bei der Impfpflicht finde ich so wichtig, was ich vorher schon gesagt habe: Es ist eine letzte Konsequenz aus Versäumnissen des Regierungshandelns. Und das sollte man auch so benennen. Es ist nichts, was irgendjemand jemals gewollt hat, sondern es ist eine Ultima Ratio, weil man sich nicht anders zu helfen weiß. Aber auch hier bringen uns Schuldzuweisungen nicht weiter. Und gerade für uns Christen ist es immanent, in jedem Menschen die Möglichkeit zu sehen, sich auch anders zu entscheiden, umzukehren, seine Meinung zu ändern. Das erreicht man nicht, indem man andere in ein Eck stellt.
In letzter Konsequenz sind Sie also für die Impfpflicht?
In letzter Konsequenz ist es eine Entscheidung, die demokratisch von der gewählten Regierung zu fällen ist und zu akzeptieren ist.
Wird heuer wieder ein halbwegs normales Weihnachtsfest möglich sein?
Normal ist da nichts. Zum Beispiel habe ich früher jedes Jahr irgendwo ein Weihnachtsoratorium gehört - aber auch heuer wird es keine großen Chorwerke geben. Es wird alles sehr reduziert sein, mit Maskenpflicht, Abständen. Aber zum anderen ist es vielleicht auch wieder ein Zeichen, was wir eigentlich zu Weihnachten feiern. Wir feiern da ja kein großes Wohlgefühl, sondern dass Gott in die Welt gekommen ist - als kleines Kind, nackt, in Windeln, in einem Stall, unter schwierigsten Bedingungen. Da sind wir ja ganz knapp dran. Mir ist wichtig, dass wir bei denen sind, die es am nötigsten haben. Weihnachten ist das Fest, wo Gott sich unter die Menschen gemischt hat, die Leiden und Existenzängste haben, und sich selbst auch diesem Leiden ausgesetzt hat. Insofern passt das Weihnachtsfest so ganz gut.
Haben Sie schon eine Kernbotschaft für Ihre Weihnachtspredigt?
Noch arbeite ich an der Predigt für den vierten Advent. Die Botschaft ist, dass wir als evangelische Kirche mit dem ersten Advent das neue Kirchenjahr unter dem Thema der Schöpfung begonnen haben. 2022 wird das Jahr der Schöpfung, weil wir auch unser Engagement gegen die Klimakatastrophe verstärken wollen. Auch da ist die Botschaft des Advents: Wir bereiten uns darauf vor, dass Gott Mensch wird. Das heißt, der Schöpfer wird damit auch selbst Teil der Schöpfung. Und wenn wir uns auf dieses Weihnachtsfest vorbereiten, dann heißt das nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und darauf warten, dass Gott alles für uns erledigt, sondern dass wir selbst dafür sorgen, dass die Welt für jedes kleine Kind, das geboren wird, lebenswert ist, und dass es eine Zukunft hat.•