Der Sondergipfel in Brüssel markiert die Halbzeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Die Regierung in Berlin ist mit großem Ehrgeiz gestartet, doch für viele der aktuellen Krisen wie etwa den Rechtsstaatlichkeitsstreit gibt es keine einfachen Lösungen.
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Mit EU-Gipfeln hat Angela Merkel reichlich Erfahrung. Seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2005 hat die deutsche Kanzlerin nicht nur dutzende dieser Treffen absolviert, in der Riege der derzeit amtierenden EU-Staats- und Regierungschefs kommt auch kein einziger nur annähernd auf eine ähnliche Zahl an Teilnahmen. Der am Donnerstag begonnene und planmäßig noch bis Freitag laufende Sondergipfel in Brüssel ist aber dennoch etwas Besonderes für Merkel - und das längst nicht nur wegen der sich gerade wieder verschärfende Corona-Krise in Europa. Denn die 66-Jährige tritt diesmal gleich in dreifacher Funktion auf: als deutsche Kanzlerin, als formale Vertretung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der am zweiten Gipfeltag wegen Verpflichtungen in Frankreich verhindert ist, und als Regierungschefin jenes Landes, das noch bis Ende des Jahres die EU-Ratspräsidentschaft innehat.
Blockierte Corona-Mittel
Das Gipfeltreffen, bei dem es am Donnerstag vor allem darum geht, ob die 27 EU-Staaten wegen des türkisch-griechischen Erdgas-Streits beziehungsweise der gefälschten Präsidentenwahlen in Weißrussland Sanktionen gegen Ankara und Minsk verhängen, markiert dabei auch die Halbzeit für die deutsche Präsidentschaft. Und diese hat sich nicht nur selbst ehrgeizige Ziele auferlegt. Auch die Erwartungen der anderen Staaten an das wirtschaftstärkste und wohl auch mächtigste Land Europas sind hoch.
So sollen in den kommenden Jahren riesige Summen in die Stabilisierung der Volkswirtschaften und sozialen Sicherungssysteme fließen, um die Corona-Folgen abzufedern. Dabei wird auf den nächsten siebenjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 noch das gigantische Konjunkturpaket von 750 Milliarden Euro aufgesattelt, womit es insgesamt um 1,8 Billionen Euro geht. Die rasche Verabschiedung des Haushalts, die die deutsche Präsidentschaft noch im Sommer zur Priorität erklärt hat, ist bisher aber am Widerstand des EU-Parlaments gescheitert.
Die Abgeordneten fordern dabei nicht nur mehr Geld als geplant für EU-Programme wie Erasmus (Jugend & Bildung) und Horizon (Forschung). Ein Knackpunkt ist ebenfalls der Rechtsstaats-Mechanismus, der auch ein zentrales Thema beim EU-Gipfel ist. So werteten viele EU-Parlamentarier den nun von einer Mehrheit der Länder angenommen deutschen Vorschlag, Gelder nur bei "direkten finanziellen Auswirkungen" von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit zu kürzen, als Kuschelkurs gegenüber Ungarn und Polen. "Selbst wenn die Umsetzung des Gesamthaushalts im Parlament jetzt noch hängt, ist der Grundsatzbeschluss im Rat aus dem Juli schon ein wesentlicher Erfolg für die deutsche Präsidentschaft", meint die Chefin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Daniela Schwarzer.
Gerungen wird unter deutscher Präsidentschaft auch um neue Finanzquellen für die EU. Bisher wird der Haushalt vor allem aus Außenzöllen, Beiträgen der Staaten und der Teilhabe an nationalen Einnahmen aus der Mehrwertsteuer bestritten. In der Diskussion sind nun neue Abgaben von Digitalkonzernen, die oft wenig Steuern zahlen. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz sagte Mitte September, die Entscheidungen für neue EU-Eigenmittel müssten nun relativ bald fallen. Verabredet ist ab Jänner 2021 immerhin schon eine Abgabe für nicht recyceltes Plastik. Weitere Einnahmearten sollen folgen - etwa aus dem erweiterten Emissionshandel sowie CO2- und womöglich neuen Finanzmarktsteuern. "Auch ohne Corona-Krise stieß das Finanzierungssystem der EU an seine Grenzen", sagt DGAP-Expertin Schwarzer. "Vor allem die Diskussion über CO2-Steuern ist wichtig. Es könnte aber ein Konfliktpotenzial mit den USA geben."
Die neuen EU-Finanzquellen sollen auch dazu dienen, den Corona-Aufbauplan abzustottern, für den erstmals in der EU-Geschichte im großen Stil gemeinsame Schulden aufgenommen werden. Viel Geld wird aber auch der Green Deal kosten, das Leuchtturm-Projekt von EU-Kommissionschefin Ursula von der der Leyen, mit dem Europa bis zum Jahr 2050 zum klimaneutralen Musterkontinent werden soll. Bei der Verschärfung des CO2-Reduktionsziels für das Jahr 2030 von 40 auf 55 Prozent hat von der Leyen die Regierung in Berlin an ihrer Seite. Doch der Umweltausschuss im Europaparlament will sogar auf 60 Prozent gehen. Deutschland soll noch vor dem Jahresende einen Kompromiss schmieden. "Wir sollten realistisch sein", meint Schwarzer. "Jetzt müssen wir erst einmal schnell an die Umsetzung des bestehenden Ziels gehen und auch internationale Koalitionen etwa mit China und den USA schaffen, bevor über weitere Verschärfungen nachgedacht wird."
Gegen die Einstimmigkeit
Die Beziehungen zu China, die am Freitag am Programm des Gipfels stehen, sollten ein weiterer Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft sein. Ein großer EU-China-Gipfel musste aber verschoben werden - und beim geplanten Investitionsabkommen ist noch unklar, ob bis zum Jahresende ein Durchbruch erreicht wird. Einsetzen wollte sich die Regierung in Berlin auch dafür, dass die notwendige Einstimmigkeit bei wichtigen außenpolitischen Beschlüssen - etwa Sanktionen wie zuletzt in den Fällen Belarus, Türkei oder Russland - gelockert werden kann. "Zu oft blockieren einzelne Mitgliedstaaten den breiten Konsens der ganz überwiegenden Mehrheit", hieß es im Juli und damit noch lange, bevor Zypern Sanktionen gegen Weißrussland durch die Junktimierung mit Türkei-Strafmaßnahmen blockierte. Die Aussichten auf eine baldige Änderung der Abstimmungsregeln werden aber als eher gering eingeschätzt. Schwarzer glaubt: "Es bleibt politisch sehr schwierig, weil gerade kleine Staaten es als Priorität sehen, ihr Vetorecht zu behalten."
Und nicht zuletzt bleibt für die deutsche Präsidentschaft die ewige Baustelle Brexit. Sollte doch noch ein Handelsabkommen mit den Briten zustande kommen, müssten die letzten Details wohl beim Gipfel Mitte Oktober unter deutscher Führung festgezurrt werden. Nach dem britschen Beharren auf dem Binnenmarktgesetz ist es aber nicht ausgeschlossen, dass es zum Ende des deutschen Vorsitzes einen No-Deal-Brexit gibt.(rs)