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Eine Familie, die besser passt

Von Eva Stanzl und Ina Weber

Wissen
Das Bild der Stiefeltern ist mythologisch verwurzelt - Märchenfigur Aschenputtel wurde von ihrer neuen Familie ausgestoßen.
© © Images.com/Corbis

Hohe Scheidungsrate lässt die Anzahl der Patchwork-Familien in Österreich steigen. | Kinder müssen sehr früh lernen, stabile Grundlagen loszulassen.


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"Ich habe vier Omas, drei Opas, vier Uromas, zwei Uropas, drei Onkel und fünf Tanten", erzählt der kleine Paul stolz im Kindergarten. Nichtsdestotrotz hat er immer noch Mama und Papa im Ursprungs-Format. Seine Eltern waren selbst Scheidungskinder. Die Eltern von Pauls Vater ließen sich scheiden, als dieser sechs Jahre alt war, und Pauls Mutter wiederum war sieben, als ihre Mama einen neuen Mann heiratete. Später folgten weitere Kinder.

Stiefmutter, Stiefvater, Stiefbruder, Halbschwester, leiblicher Vater, neuer Mann, Erzeuger... die Mitglieder einer Patchwork-Familie zu benennen ist nicht immer leicht. Dabei ist diese Familienform heute im deutschsprachigen Raum die dritthäufigste, nach der klassischen Familie und Alleinerziehern. Die Lebensform geht auf alte Zeiten zurück, als eine hohe Sterberate, auch der Mütter bei der Geburt, es notwendig machte, dass ein neuer Partner in eine bestehende Familie eintrat. Carel van Schaik, Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich, sieht sogar Vorbilder in der Steinzeit, als die wirtschaftliche Grundlage der Menschen das Jagen und Sammeln war. "Die Menschen lebten in wandernden Horden und in enger Verbindung mit der Natur. Ihre Kinder zogen sie in der Gruppe auf", sagt er.

Die böse Stiefmutter

Jüngere Vorbilder schüren hingegen eher Angst vor Patchwork-Situationen, oder erwecken falsche Träume. Böse Stiefmütter misshandeln ihre Stiefkinder in zahlreichen Märchen. Schneewittchen und Aschenputtel sind tief verankert in der kollektiven Psyche, wohl auch weil sie Kindern vor dem Einschlafen vorgelesen werden. Da können nur die Rettung durch den Prinzen helfen und das Happy End. Ähnlich tief sitzt also auch das Märchen vom bis ans Ende seiner Tage glücklich vermählten Paar. Wenn der Traum platzt, sind Mutter und Vater zunächst vor den Kopf gestoßen. Die Realität schlägt zu und was bleibt, sind meist Restfamilien aus Mutter und Kind(ern). Oder das Wagnis Patchwork.

Der Begriff wurde erstmals 1990 verwendet im US-Ratgeber "Yours, Mine and Ours. How Families Change when Remarried Parents Have a Child Together" von Anne Bernstein. Gemeint ist "Flickwerk", oder: Familie neu zusammengesetzt.

Doch was bedeutet das für Beziehungen? - "Du kannst Papa zu mir sagen", lautete die Aufforderung des Stiefvaters an die kleine Karin S. Doch für das siebenjährige Mädchen war schon allein die Idee ein unlösbares Dilemma, da sie ja schon einen Papa hatte, der halt nur woanders lebte. Außerdem machte ihr die ganze Situation Angst. - "Statt Stiefmutter war mir der Begriff Mama Nummer zwei viel lieber", berichtet auf der anderen Seite Sonja K., Mutter von einem und, wie sie sagt, "gefühlte Mutter" von drei Kindern.

Die deutsche Autorin Iris Radisch bezeichnet die Patchwork-Familie als "familiäre Notfallklinik", in der "zunächst alle Mitglieder überfordert sind: "Die Geschwister befinden sich in ungleichgewichtigen Verwandtschaftsverhältnissen zueinander, sie haben verschiedene Großeltern, Tanten und Cousinen. Die Eltern sind nicht für alle Kinder gemeinsame Eltern", schreibt sie die Situation in ihrem Buch "Die Schule der Frauen. Wie wir die Familie neu erfinden".

Die Reparaturmannschaft

Allerdings räumt Radisch ein, dass Patchwork-Familien eine größere Vielfalt von Beziehungen ermöglichen: "Sie birgt die Chance zu vielseitigem Austausch und gegenseitiger Ermutigung und Entlastung für alle Familienmitglieder." Letztlich aber könne sie dem Dilemma, im Grunde eine Reparaturmannschaft abzugeben, nicht voll und ganz entkommen. Denn konkrete Verhaltensregeln stehen in keinem Buch geschrieben.

Wie notwendig ein paar Patchwork-Konventionen wären, zeigen die Zahlen. Einer Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung zufolge sind Patchwork-Familien "am aufsteigenden Ast", während die Zahl der ehelichen Kernfamilien schrumpft. Gab es 1980 noch 774.000 klassische Familien, also verheiratete Paare mit Kindern unter 15 Jahren, waren es 2009 nur noch 557.000. Die Zahl der Lebensgemeinschaften mit Kindern stieg dagegen von 25.000 auf 120.000. Auch die Anzahl der alleinerziehenden Mütter wuchs von 87.000 auf 106.000 an. Neben den Patchwork-Familien werden auch die Restfamilien mehr.

Die Patchwork-Konstellation funktioniert oder sie funktioniert nicht - hier gibt es zu anderen Familienformen wohl kaum einen Unterschied. Jedoch sind es vor allem die Kinder, die keine Wahlfreiheit haben und in ein neues Leben geworfen werden, mit dem sie oft nicht zurechtkommen. Wie kann der neue Mann der Mutter plötzlich Vater sein und der echte Vater ist von heute auf morgen nicht mehr da? Wie schafft es ein Kind, seinen Platz zu finden, wenn plötzlich ein Halbbruder existiert, der mit beiden Elternteilen zusammenleben darf, es selbst aber nur mit der Mutter?

"Die Trennungsbewältigung aller Beteiligten ist der Hauptfaktor für das Funktionieren der neuen Familie", sagt Corinna Ahlers, Psychologin am Wiener Kompetenzzentrum "Familie neu". Oft tragen getrennte Paare jedoch ihren Streit auf dem Rücken der Kinder aus. "Was die Partner noch zu bewältigen haben, bewältigen automatisch auch die Kinder mit", betont die Psychologin.

Bunte Vielfalt - eine Lüge?

Aus diesem Grund hält die deutsche Autorin Melanie Mühl Idealbilder von der bunten Familien-Vielfalt für eine Lüge: Viel zu groß seien die Verletzungen, die Kinder bei einer Trennung erleiden, schreibt sie in ihrem diese Woche erscheinenden Buch: "Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift". Demnach sollten Eltern zum Wohl der Kinder einsehen, dass Erwachsensein Verantwortung und Festlegen bedeute.

Was bei Mühl zu kurz kommt, ist, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen auch Partnerschaften prägen. Die Berufstätigkeit von Frauen, der Druck auf das Ernährer-Modell, die Angebotsvielfalt des liberalen Kapitalismus, kulturelle Grenzverschiebungen, Mobilität und ständige technische Neuerungen verordnen nicht nur der eigenen Biografie, sondern auch dem Leben an sich eine Dauerevaluierung. Die Lebensgeschichten verlaufen nicht mehr linear - wen dürfen die Veränderungen also wundern? Ob sie gelingen oder nicht, Patchwork-Familien sind Ausdruck unserer Zeit. Beziehungsbruch und Wahlfreiheit gehen hier Hand in Hand. Die Kinder allerdings haben keine Wahlfreiheit. Sie müssen oft schon sehr früh lernen, loszulassen, was sie für grundlegend und unverrückbar halten.

Welche Stabilität kann das Leben danach haben? Wichtig für das Gelingen von Patchwork-Familien ist laut Psychologin Ahlers, dass Ansprüche und Mythen aufgegeben werden. Die Stiefmutter hat es dabei am schwersten, "weil der Mythos Mutter stärker besetzt ist als jener des Vaters. Sie sollte den Anspruch auf Mütterlichkeit jedoch aufgeben und dem neuen Kind eher eine Kameradin sein." Wenn der leibliche Vater noch lebt, könnte der Stiefvater ein väterlicher Freund sein. Keiner ersetzt den nicht in der neuen Familie lebenden leiblichen Elternteil.

Klare Vereinbarungen

"Wenn Kinder gleich nach der Scheidung in einer Patchwork-Familie landen, ist die Umstellung meist schwieriger, als wenn Zeit dazwischen liegt. In beiden Fällen sind klare Regeln und Vereinbarungen wichtig, sowohl in der neuen Familie als auch mit dem Elternteil, der nicht in der Familie lebt", sagt Brigitte Gross, Psychotherapeutin mit mehr als 30 Jahren Erfahrung im Bereich Familienaufstellungen. Keine Familie sollte als "die bessere" bewertet werden. Denn sich als neue Familie zu spüren braucht Zeit - genug Zeit, um die eigene Familiengeschichte zu schreiben.

Weitere Artikel über "Lebenswelten" erscheinen in den kommenden Wochen.