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Eine finstere Epoche? Nicht überall

Von Mathias Ziegler

Wissen

Wie düster war das Mittelalter wirklich? Und wie authentisch kann man sich dem Thema eigentlich im 21. Jahrhundert nähern? Eine Historikerin, ein Organisator von Mittelalterfesten und ein Ritterdarsteller geben Antwort.


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Das Mittelalter: eine finstere Epoche zwischen Antike und Neuzeit, in der Hochkulturen mit der Völkerwanderung untergingen und erst viel später wieder aufblühten. "Dark Ages", wie der Engländer sagt, wenn er vor allem das Frühmittelalter meint. Aber stimmt das überhaupt? War das Mittelalter wirklich so finster? Brachte es wirklich so dramatische kulturelle Einbrüche?
"So dunkel, wie viele glauben, war das Mittelalter in Europa sicher nicht", sagt dazu Meta Niederkorn, Historikerin an der Universität Wien. Es gab freilich regional große Unterschiede. "Wer im ehemaligen Imperium Romanum lebte, fand eine andere Lebenssituation vor, weil das Gebiet schon davor von der Verwaltung her sehr dicht durchdrungen war. Diese Strukturen blieben auch lange nach dem Untergang des Weströmischen Reiches erhalten."

Stadt-Land-Gefälle

Niederkorn spricht auch von einem starken Stadt-Land-Gefälle, was das Leben der mittelalterlichen Bevölkerung betrifft. "In den Städten, die schon vor dem 4. Jahrhundert zum dicht verwalteten Gebiet gehört hatten, gab es auch im Mittelalter eine hohe Alphabetisierungsrate und viel Hochkultur. In Gebieten, die tatsächlich nie römisch geprägt waren, war das sehr viel weniger ausgeprägt." Insgesamt schätzt sie die Alphabetisierungsrate im mittelalterlichen Europa auf höchstens 10 Prozent. Allerdings: Je dichter die Verwaltung wurde, desto wichtiger wurde es, lesen und schreiben zu können, und die Alphabetisierungsrate stieg zumindest in den Städten. "Es konnten aber wohl auch noch im 14. Jahrhundert in den Städten maximal 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung gut lesen und schreiben", meint die Historikerin. Schließlich konnte es sich nicht jeder leisten, seine Kinder in die Schule zu schicken und auf deren Arbeitskraft zu verzichten.
Das Mittelalter war auch stark geprägt von der Kirche und deren Verwaltungsstruktur, auf die weltliche Herrscher ebenfalls zurückgreifen konnten. Denn ähnlich wie die Ausbreitung der arabischen Herrschaft eng mit der Islamisierung zusammenhing, ging mit der Ausdehnung des Herrschaftsgebietes unter Karl dem Großen in Richtung Osten eine breite Christianisierung einher. Dabei spielte Latein als Sprache der Kirche eine wichtige Rolle als Verkehrssprache, die in so gut wie ganz Europa verstanden wurde, während im ehemaligen Oströmischen Reich das Griechische dominierte.
Die Städte begannen jedenfalls als Verwaltungszentren eine immer größere Rolle zu spielen, zumal besonders im Hochmittelalter die Themen Wirtschaft, Handel und Verkehr immer wichtiger wurden. Auch weil die Bedürfnisse nach Luxusgütern im Gefolge der Kreuzritter aus dem Nahen und Fernen Osten und auch aus Nordafrika nach Europa kamen. Damit zusammen hing auch ein neuerlicher Umstieg von der Naturalien- auf die Geldwirtschaft. "Schon in der Antike hatte Geld eine hohe Präsenz, die dann aber etwas zurückgegangen war", erläutert Niederkorn. Europa war in dieser Zeit sehr stark von östlichen Einflüssen geprägt, sie spricht aber von einer eher einseitigen Befruchtung: "Umgekehrt ist in kultureller Hinsicht wenig Nennenswertes aus Europa in den arabischen Raum gekommen." Am ehesten wurden noch gewisse Herrschaftsformen exportiert, "nur hat etwa der Feudalismus in der arabischen Gesellschaft nicht funktioniert". Im Zusammenhang mit der Christianisierung, die mit den Kreuzzügen einherging, spricht sie von einem "unglaublichen Hochmut der Europäer, die den anderen über ihre Religion eine aus ihrer Sicht bessere Kultur bringen wollten". Und sie verweist darauf, dass die von Europa verehrten Kirchenväter aus Nordafrika und Syrien kamen. Die Kreuzzüge waren also insgesamt einerseits eine Bereicherungstour für jüngere Adelssöhne, die ohne Erbe das Abenteuer – und vor allem Land und Herrschaft – suchten, andererseits brachten sie auch wichtige Impulse für die europäische Wirtschaft und die Wissensbildung.

Eine Plattenrüstung aus heutigem Material, wie jene von Hannes Rohr (Bild), kostet ab 2000 Euro.
© Jasmin Ziegler

Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten

Das gängige Bild vom Mittelalter als kulturellem Abstieg zwischen Antike und Renaissance stimmt jedenfalls für die städtischen Gebiete in vielen Bereichen gar nicht, und auch in ländlichen Gebieten gab es kaum einen Einbruch, "weil ja auch davor wenig da war". Man kann fast von einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten sprechen. Die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung der verschiedenen Regionen hing auch davon ab, welche Transferwege für Wissen, Kultur und Wirtschaftsgüter zur Verfügung standen. "Es ist kein Zufall, dass die ältesten Universitäten genau in Oberitalien, Frankreich und auf der iberischen Halbinsel und dann auch in England entstanden sind. Also in genau den Regionen, die auch für Wirtschaft und (Fern-)Handel eine große Rolle ge-spielt haben)", meint die Historikerin. Der deutschsprachige Raum war da relativ spät dran.
Bedeutsam für den Aufschwung der Städte war natürlich – nicht zuletzt durch die Kreuzzüge – der Krieg als Wirtschaftsfaktor, weil etwa die Nachfrage nach Rüstungen stieg. "Man kann zwar noch nicht von einer Industrialisierung sprechen, aber die Produktion erreichte dann doch größere Maßstäbe", meint dazu Thomas Tschematschar. Als Artdirektor bei "Forum Antiquum", einem Ausrichter von Mittelalterfesten (www.mittelalterevent.com), ist er immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie sich das Leben im Mittelalters im 21. Jahrhundert darstellen lässt.
"Ich bin sehr vorsichtig, was die Authentizität betrifft", meint er. "Ich finde es natürlich toll, wenn die verschiedenen Lagergruppen sich darum bemühen. Aber meine Aufgabe ist es in erster Linie, die Leute zu unterhalten. Bis ins letzte Detail kann man ohnehin nicht authentisch sein und muss da auch vieles abwägen. Aber es gibt zum Beispiel bei uns eine Schmiede, in der Bronze gegossen und Perlen gedreht werden wie vor tausend Jahren, mit dem Blasebalg und nicht mit dem Gasbrenner." Wirklich komplett so zu arbeiten wie damals, wäre aber schon allein aus Zeitgründen und wegen des hohen Aufwands kaum machbar, wenn man bedenkt, dass allein das Herstellen der Kohle für den Brennofen mehrere Tage dauerte. "Und dann müssten erst einmal die Metalle herausgebrannt werden. Das wäre für ein Mittelalterfest einfach zu viel Aufwand. Oder wenn man sich die Herstellung von Schindeln anschaut, wo man Ewigkeiten brauchte und dann nur jede zweite wirklich zu gebrauchen war."
Früher stammten die meisten Rohstoffe aus der Umgebung, Importe begannen erst so richtig nach den Kreuzzügen. "Auch das ist heute gar nicht mehr machbar. Aber die Materialien sind oft schon sehr authentisch", sagt Tschematschar. Viele Gruppen bemühen sich um eine korrekte Kleiderordnung und möglichst naturnahe und regionale Werkstoffe und Textilien, setzen Leinen statt Baumwolle (die im europäischen Mittelalter noch ein seltenes Luxusgut war) ein, halten sich an historische Schnittmuster. "Aber man darf nicht vergessen, dass das Mittelalter nicht komplett überliefert ist", gibt Tschematschar zu bedenken. "Es gibt einzelne Funde, aus denen man extrapolieren muss."
Mithilfe der sogenannten Experimentalarchäologie, auch "Living History" genannt, lassen sich allerdings viele Erkenntnisse gewinnen. Betrieben wird sie in größerem Maßstab zum Beispiel in der französischen Gemeinde Treigny im Département Yonne (www.guedelon.fr). Dort wird im Rahmen des Rekonstruktionsprojektes "Guédelon" nach den Prinzipien der experimentellen Archäologie eine komplette Burg gebaut. 50 Vollzeitkräfte und bis zu 16 Freiwillige arbeiten seit 1997 ausschließlich mithilfe von Techniken des 13. Jahrhunderts – der geplante Fertigstellungstermin ist 2023.

Ein komplettes Kettenhemd mit 30.000 bis 40.000 kleinen Ringen warso teuer wie heute ein Einfamilienhaus.
© Jasmin Ziegler

"Living History" widerlegt auch Irrtümer

Die "Living History" kann auch den einen oder anderen landläufigen Irrtum widerlegen. "Den typischen Ritter, der immer kampfbereit in voller Rüstung unterwegs war, hat es zum Beispiel so sicher nicht gegeben, das wäre viel zu aufwendig gewesen. Er hatte einen Dolch als Zeichen seines Standes, aber Rüstung und Schwert wurden nur im Kampf oder zu offiziellen Anlässen getragen. In der Heraldik wird ja vieles symbolhaft dargestellt", erklärt Tschematschar. "Zum Beispiel beschäftigt uns immer wieder die Frage: Wie trägt der Ritter sein Schwert? Sicher nicht ständig an der Seite, sondern eher in der Armbeuge, weil es ihm sonst im Weg gewesen wäre. Aber es gab halt diese Symbolik, sodass klar war: Der hat das Schwert an der Seite – das ist ein Ritter. Und der Helm, den er in der Heraldik sehr oft trägt, teilweise sogar auf der Schulter, den hatte er wohl mitunter gar nicht mit, weil er zu unhandlich gewesen wäre. Zwischen dem, was aus Quellen extrahiert wird, und dem, was praktische Versuche ergeben, liegen oft große Unterschiede."
Wie schwer die volle Montur ist, weiß Hannes Rohr von den "Equites Ex Animo" (www.kreuzritter.at) aus eigener Erfahrung: "Das sind handgeschmiedete Platten so wie früher, die Vorlagen sind Bodenfunde oder Museumsstücke, also ist es zumindest bis zu einem gewissen Grad authentisch. Allerdings ist es heutiges Material, das sich mit den damaligen Metallen nur schwer vergleichen lässt", sagt der 28-Jährige, der im zivilen Leben Hochbautechniker ist und bei verschiedenen Ritterfesten Schaukämpfe ausficht. "Das Schwitzen ist auf jeden Fall authentisch", meint er schmunzelnd mit Blick auf die bis zu 30 Kilo Gesamtgewicht, die ein Kämpfer in Plattenrüstung samt Schwert und Schild zu schleppen hatte. "Eine halbe Stunde mit Kämpfen-Pause-Kämpfen-Pause ist machbar, danach wird es mühsam. Wenn man bedenkt, dass die Kämpfer damals mehrere Tage in voller Rüstung im Feld waren – das waren echte Hochleistungssportler." Auch Rohr trainiert dreimal pro Woche, damit er auch in der sommerlichen Mittagshitze in seiner Rüstung nicht umfällt.
Sechs bis zehn Feste im Jahr besucht sein Verein. "Ein bisschen Geld bringen uns diese Engagements schon, aber das meiste bezahlen wir selbst." Eine vollständige Rüstung wie seine, die er aus verschiedensten Quellen zusammengestellt hat, kostet ab 2000 Euro aufwärts. Wobei das schon günstig ist, wenn man bedenkt, dass allein das Kettenhemd aus 30.000 bis 40.000 kleinen Ringen gefertigt wurde, für die in mühevoller Kleinarbeit erst einmal die Drähte rundgebogen und dann Ring für Ring miteinander vernietet werden mussten. "Umgerechnet auf heutige Verhältnisse war so ein Kettenhemd etwa so teuer wie ein Einfamilienhaus", rechnet Artdirektor Tschematschar vor, der enormen Respekt vor der Leistung der mittelalterlichen Handwerker hat. Die meisten Schmiede für authentische Rüstungen sind in Osteuropa daheim. "Nicht nur wegen der Herstellungskosten, sondern auch weil das alte Handwerk dort noch am meisten gepflegt wird."
Auch viele Darsteller, vor allem unter den Berittenen, kommen aus dem ehemaligen Ostblock, vor allem aus Tschechien, was Tschematschar zum Teil mit dem Eisernen Vorhang und seinen Folgen auf das TV-Programm erklärt: "Wir hatten ‚Micky Maus‘ und ‚Raumschiff Enterprise‘, die hatten die tschechischen Märchenfilme. Da war und ist der Bezug zum Thema Ritter und höfisches Leben ein ganz anderer. Während bei uns die Szene erst vor zwanzig bis dreißig Jahren so richtig zu leben begonnen hat, gibt es in Osteuropa schon viel länger Mittelalterfeste." Aber auch die Kinder in Österreich lieben Ritter: "Beim Kinderritterschlag, den wir mit den ‚Equites Ex Animo" machen, zeigt jedes zehnte Kind so richtige Emotionen – und das ist letztlich der schönste Lohn."
Das nächste große Projekt (vor den Ritterspielen in Laxenburg bei Wien an den letzten beiden Septemberwochenenden) ist der Sturm auf die Burg Clam am 19. und 20. August, zu dem Akteure aus ganz Österreich und Bayern anreisen. "Da kann man die Gruppen nur aufeinander loslassen", meint Tschematschar. Er gibt zwar die Schlachtordnung vor, aber die Details der Choreografie müssen sich dann die Truppführer selbst untereinander ausmachen. Über den Ausgang will der Artdirektor nur so viel sagen: "Meistens haben die Verteidiger die bessere Position. Zumal die Burg Clam nur ein kleines Nadelöhr hat – deswegen wurde sie auch nie erobert." Tschematschar betont, dass die verschiedenen Kämpfer "lieb zueinander sind, wenn auch ganz schön hart lieb". Beim Kämpfen geht es nun einmal auch unter Freunden hart zu. "Die meisten Verletzungen, und selbst die sind selten, passieren allerdings durch Stürze und nicht durch Schwertschläge. Wir geben gegenseitig auf uns acht."

Beim französischen Burgbauprojekt "Guédelon" werden  seit 1997 ausschließlich Techniken des 13. Jahrhunderts angewandt. 2023 soll die Burg fertig sein.
© CC/KPS

Aufzeichnungen über die untersten Schichten

Der Ritterstand machte aber nur ein paar Prozent der europäischen Bevölkerung im Mittelalter aus, mindestens 90 Prozent waren Bauern und/oder Leibeigene. "Das einfache Leben nachzuvollziehen ist immer so ein Problem", meint Tschematschar. "Das, was wir aus dem Mittelalter durch Aufzeichnungen wissen, war ja auch schon gefilterte Information." Die Geschichtsschreibung ist schließlich immer nur so objektiv wie ihre Verfasser, und meistens sind es die Eliten, die ihre Geschichte niederschreiben. Welchen Quellen können Historiker da trauen? "Natürlich sagen uns Urkunden und andere Herrschaftszeugnisse sehr viel. Wir müssen aber immer auch schauen, was uns die Quellen aus der Verwaltungsebene über die Gruppen sagen, die nicht zu den Eliten gehören – also über die Beherrschten. Die werden da sichtbar", erklärt dazu Historikerin Niederkorn. Denn wenn etwa verzeichnet wurde, welcher Acker an wen verliehen wurde, wer welche Natural- oder Geldleistungen an den Herrscher abzugeben hatte, "erfahren wir nicht nur die Namen der Betroffenen und ob es Leibeigene oder (Teil-)Freie waren, sondern zum Beispiel auch, was angebaut wurde und wie hoch die Abgaben waren, wieviel erwirtschaftet wurde".

Im Zuge der damals zunehmenden Verschriftlichung des Rechtes stellen auch Rechtsordnungen gute Quellen dar: "Das sind zum Beispiel die berühmten ‚Leges‘ unter Karl dem Großen, der ‚Sachsenspiegel‘ oder der ‚Schwabenspiegel‘. Darin zeigt sich auch gut der Übergang vom personengebundenen Herrschaftssystem hin zum territorialen. Auch damit kann man sich ein Bild davon machen, wie die Menschen gelebt haben – immer unter der Prämisse, dass es da auch noch welche gab, die so wenig bis nichts hatten, dass sie nicht erfasst wurden, weil sie gar nicht in die Situation kamen, etwas abzugeben, etwa Taglöhner in den Städten." Aber selbst diesen kann mitunter nachgespürt werden, wenn sie zum Beispiel aus Gottesfürchtigkeit etwas stiften ließen und das irgendwo aufgeschrieben wurde. "Das sind wirklich berührende Zeugnisse, wenn man sieht, dass die Leute kaum etwas hatten, aber zumindest zu ihrem Andenken haben sie eine Kerze gestiftet."
Hier kommt den Historikern wieder die Buchhaltung der Kirche zugute, in der auch über die Jahrtausende vieles erhalten geblieben ist. "Es ist bei allen Religionen so: Wenn Interaktion passiert ist, gibt es sehr viel Verschriftlichtes. Da erfahren wir auch viel über die tatsächlichen Lebenssituationen." Und es wurde im Laufe der Zeit immer genauer aufgezeichnet, zum Beispiel auch in Form von Prozessprotokollen, "wenn der Dorfrichter unter der Linde seine Bank aufgestellt hat".
Welche Rolle spielt die Feldforschung für die Wissenschaft? "Für das Mittelalter ist die Archäologie sehr wichtig", erklärt Niederkorn. Denn es ist eines, was aufgeschrieben wurde, aber was zum Beispiel in einem Kloster gegessen wurde, erfährt man, wenn man eine Senkgrube ausgräbt. Da sieht man dann zum Beispiel, dass die Mönche in Mauerbach Flussschildkröten als Fleischersatz gegessen haben." Oder man findet Skelette von Neugeborenen, bei denen sich offenbar keine Nottaufe mehr ausging, weshalb sie direkt an der Kirchenmauer begraben wurden. "Das lässt dann unter anderem Rückschlüsse auf die Kindersterblichkeit zu. Da gibt es zum Beispiel Fälle, in denen etliche Kinder an einer ganz bestimmten Deformation gestorben sind." Und natürlich werden diverse Alltagsgegenstände ausgegraben, die ebenfalls Rückschlüsse auf das mittelalterliche Leben zulassen. Ein Problem ist natürlich, dass viele Ausgrabungen heute schwierig sind, "weil man sich erst einmal dazu durchringen muss, Bauarbeiten zu stoppen, wenn man bei Grabungsarbeiten etwas findet".
Was den Eurozentrismus betrifft, der immer wieder in Zusammenhang mit Forschungsarbeiten kritisiert wird, so ist es in den vergangenen Jahrzehnten besser geworden, meint die Historikerin. "Natürlich muss man sich immer fragen: Wie weit ist es zulässig, dass ich das Objekt und das Subjekt nur aus dem Blickpunkt betrachte, in dem ich selbst sozialisiert bin und in dem ich forsche? Das ist etwas, was man unglaublich intensiv nicht nur sich selbst sagen muss, sondern auch immer wieder ansprechen muss. Wobei ich glaube, dass hier die Globalisierung – im positiven Sinn – bei den Studierenden und Forschenden schon viel bewegt hat. Dass man sich bewusst macht, dass auch im Mittelalter die Welt nicht nur aus Europa bestanden hat."
Inwieweit waren eigentlich andere Gesellschaften auf den übrigen Kontinenten damals weiter als die Europäer? "Gerade der Begriff des Luxus ist eigentlich erst mit den entsprechenden Gütern im Zuge der Kreuzzüge nach Europa gekommen. Insofern war in diesem Zusammenhang der arabische Raum durchaus höher entwickelt. Ob das nun bestimmte Textilien sind, Glasprodukte oder Parfums. Auch die Bäderkultur, die es zwar in der Antike gegeben hatte, die dann aber, mit Ausnahme der Klöster, wieder zurückgegangen war, wurde erst später wieder nach Europa gebracht." Natürlich gab es auch im Osten weniger entwickelte Regionen. Auch in Afrika kommt es auch die geografische Lage an.
"Über Amerika – vor der Ankunft der Europäer – wissen wir wiederum immer noch extrem wenig", sagt Niederkorn. "Es muss aber eine sehr hoch entwickelte Kultur gewesen sein. Die Eroberer haben jedoch relativ erfolgreich vieles nachhaltig zerstört, auch weil sie die Kultur nicht verstanden haben. Und Versuche, vor allem von Missionaren, das aufzuzeichnen, was sie dort noch an Resten vorgefunden haben, waren meistens zu kleinräumig, um ein großes Gesamtbild zu ermöglichen." Auch hier spricht die Historikerin vom "Hochmut der europäischen Eroberer", die dem Motto folgten: "Wir bringen den anderen die Kultur."