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Eine folgenlose Sternstunde des Parlamentarismus

Von Ernst Smole

Gastkommentare

Gastkommentar: Was der Mord am Brunnenmarkt, der gestoppte Mauerbau im Wiener Regierungsviertel und der Dauerpatient Schulsystem gemeinsam haben.


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Am Abend des 19. Mai 2016 ereignete sich im Plenarsaal des Parlamentes eine Sternstunde des Parlamentarismus - dies leider unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn die TV-Kameras waren bereits abgeschaltet und die Journalisten längst in die Redaktionen enteilt. Die Besuchergalerie gehörte mir ganz allein. Mein einziger unabhängiger Zeuge ist das offizielle Parlamentsprotokoll dieser Sitzung.

Was war geschehen? Die FPÖ hatte eine Dringliche Anfrage an den Justizminister eingebracht. Deren Gegenstand war der Mord am Brunnenmarkt vom Frühjahr 2016. Ein obdachloser, psychisch mehrmals auffällig gewordener, einschlägig vorbestrafter Asylwerber hatte in den frühen Morgenstunden am Brunnenmarkt in Wien eine Frau ermordet, die sich am Weg zur Arbeit befunden hatte.

Bei der Anfrage und der darauffolgenden mehrstündigen Parlamentsdebatte ging es um die Frage, welche Institutionen oder Personen versagt hatten, sodass diese zu befürchtende Mordtat tatsächlich geschehen hatte können. Dass die Abgeordneten über diese Frage geteilter Meinung waren, überraschte nicht. Die Debatte währte drei Stunden - eine Lehrstunde für politische Achtsamkeit. Es gab Zwischenrufe in verhaltener Diktion und ebensolcher Lautstärke, keine Schuldzuweisungen, keine Stammtischparolen, es wurde nicht ein Cent an "politischem Kleingeld" gemacht - Teil eins einer traurigen Sternstunde.

Justizminister Wolfgang Brandstetter erklärte sinngemäß: Niemand hatte versagt. Alle mit dem traurigen Schicksal des amtsbekannten Asylwerbers befassten Behörden des Bundes und der Stadt Wien - es waren deren zahlreiche gewesen - hatten über frühere Vorfälle fristgemäß und gesetzeskonform Berichte verfasst, diese an alle anderen tatsächlich oder möglicherweise zuständigen Stellen gesandt, Expertisen und Gutachten angefordert, diese wiederum an alle tatsächlich oder möglicherweise mit- oder teilzuständigen Adressen weitergeleitet. Es war jedoch nichts geschehen, was die absehbare Gewalttat hätte verhindern können - unzählige Zuständige, niemand davon klar erkennbar persönlich verantwortlich. Der Schlussbericht der Untersuchungskommission Mitte 2017 hat diesen Befund bestätigt.

"Wie würde Österreichs Verwaltungsstruktur aussehen, würde man sie heute neu entwerfen? Das, was wir jetzt haben, käme nicht heraus, denn dies ist viel zu schwerfällig, viel zu mühsam. Es braucht einen allumfassenden Ruck, um die nötigen Veränderungen so rasch wie möglich durchzuführen." So äußerte sich der Justizminister (das Zitat wurde vom Autor geringfügig gerafft). Er bekam dafür Applaus quer durch alle Parteien - Teil zwei einer nachdenklichen Sternstunde.

Potenzielle Terrorziele

Und was, wenn nichts geschieht? Spätsommer 2017: Alle Welt weiß, dass Regierungsviertel in jenen Krisenländern akut vom Terror bedroht sind, in denen Großmächte intervenieren - Pakistan, Afghanistan, Irak, Jemen. Der Terror in Europas Hauptstädten aber richtet sich gegen die Bevölkerung, er findet in U-Bahnen, in Veranstaltungszentren und in Einkaufsstraßen statt. Im Spätsommer 2017 werden im Regierungsviertel in Wien massive Mauern aufgestellt, während die belebtesten Zonen, die Kärntner Straße, die Rotenturmstraße und die Mariahilfer Straße - Letztere war lange Zeit der Standort eifriger Koran-Verteiler - ungehindert zu durchfahren sind.

Nachfragen haben ergeben, dass das Sicherheitskonzept, das nun mit der Anti-Terror-Mauer im Regierungsviertel umgesetzt werden sollte, aus dem Jahr 2014 stammt und damit bereits veraltet ist, da sich die Bedrohungsszenarien seither verändert haben. Mit größter Sicherheit ist dies allen befassten Institutionen klar, werden Gutachten und Stellungnahmen kreuz und quer geschickt, Expertisen eingeholt usw. Kurz: Es wird all dies praktiziert, was den Mord am Brunnenmarkt nicht verhindert, sondern vielmehr mit möglich gemacht hat. Der mittlerweile verhängte Baustopp brachte dabei Erstaunliches zutage: Es lässt sich nicht feststellen, wer denn letztendlich überhaupt den Baubeginn verfügt hatte. Und wieder: stangenweise Zuständige, doch konkret persönlich verantwortlich: niemand.

Kelsen und die Verwaltung

Die schlimmsten Katastrophen sind mitunter jene, die sich eher unspektakulär geben. Man hat sich bereits daran gewöhnt, dass jährlich tausende Fünfzehnjährige unser Schulsystem, das je Schüler berechnet tatsächlich eines der weltweit teuersten ist, ohne ausreichende Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen verlassen. Man weiß heute aber auch, dass das Gelingen von Schule zu rund 90 Prozent vom Tun der einzelnen Lehrer vor der Klasse abhängig ist, in das es künftig zu investieren gilt.

Doch die neue Lehrerbildung reduziert dieses so wichtige Üben des Unterrichts vor der Klasse, und die "Schulreform" (kann man sie wirklich so nennen?) vom Frühsommer 2017 fettet durch Bildungsdirektionen in den Ländern die aus der Monarchie stammende Schulverwaltungskaskade, die jetzt schon eigentlich für ein Volk von 66 Millionen Einwohner ausgelegt ist (das hat sogar das Bildungsministerium im "Bildungsbericht 2015" zugegeben), weiter auf.

Der bedeutendste Co-Autor der Österreichischen Bundesverfassung, Hans Kelsen, wies auf der letzten Seite seines Standardwerkes "Österreichisches Staatsrecht, entwicklungsgeschichtlich dargestellt" (erschienen im Jahr 1923) darauf hin, dass "Staatsverfassungen über die Tendenz verfügen, zu beharren". Kelsen forderte außerdem dazu auf, die Verfassung und damit auch die Verwaltung stets neuen politischen Gegebenheiten entsprechend zu adaptieren.

Österreich hat einerseits ein Verwaltungssystem, das absehbare, schwere Straftaten nicht zu verhindern imstande ist, auf veränderte globale Bedrohungslagen nicht adäquat reagiert, Mauern entstehen lässt, deren Bau angeblich niemand veranlasst hat, und ein von einem Hierarchiemoloch gefesseltes Schulsystem zu einer Produktionsstätte von jährlich tausenden Analphabeten macht, deren Lebenschancen per System vernichtet werden - und andererseits ein Parlament und eine Regierung, die applaudieren, wenn im Sinne Kelsens eine zukunftsfähige Staatsverwaltung auf der Grundlage einer tiefgreifenden Aktualisierung der Staatsverfassung gefordert wird.

Wann wird dieses einhellige Wollen in gemeinsames Tun münden? Dies ist die bedeutendste Herausforderung, an deren Gelingen die politischen Gestalter der kommenden Legislaturperiode einst gemessen werden müssen.

Ernst Smole war Berater der Unterrichtsminister Fred Sinowatz, Herbert Moritz und Helmut Zilk. In der laufenden Legislaturperiode wurde er als Auskunftsperson in die Parlamentsausschüsse für Budget und Bildung berufen.