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Eine Frage der Perspektive

Von Walter Hämmerle

Leitartikel

Während sich in den einstigen Hartwährungsländern wie Deutschland oder Österreich zunehmend mehr Bürger fragen, ob die Sache mit dem Euro vielleicht nicht doch ein einziger großer Irrtum war, hat Estland in den vergangenen Jahren keine Mühen gescheut, so schnell wir möglich der europäischen Einheitswährung beizutreten. Allerdings ist auch hier in den vergangenen Monaten die Zahl der Skeptiker größer geworden.


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Es kommt eben auf die Perspektive an - und die gibt der Standort vor. Bei den Esten sorgt der große Nachbar Russland dafür, dass der baltische Klein staat gar nicht schnell genug seine Integration in die Strukturen des Westens vorantreiben konnte. Niemals wieder in den russischen Einflussbereich geraten: Das war die mächtigste Antriebskraft in Estland. Die Mitgliedschaft in der Eurozone vollendet nun diesen Weg keine zwanzig Jahre, nachdem das Land zum zweiten Mal nach 1918 seine Unabhängigkeit erlangt hat.

Die wilde politische Entschlossenheit, die die Einhaltung der Stabilitätskriterien erst ermöglichte, kontrastiert fast brutal mit der Behäbigkeit, die in den westlichen Konsensdemokratien zur Regel geworden ist. Estlands Wirtschaft boomte, bis das Platzen der Finanzblase das Land brutal aus seinen Träumen riss. Seitdem haben sich die Arbeitslosenzahlen auf 15 Prozent verdreifacht, die Sozialhilfe liegt bei 77 Euro monatlich, die Kluft zwischen Arm und Reich ist förmlich explodiert. Die Gesamtverschuldung Estlands liegt dennoch bei rekordverdächtig niedrigen 7,2 Prozent.

Anders als in den im Vergleich üppig ausgebauten Sozialstaaten Griechenland oder Portugal, ist in Estland von wütenden Demonstranten nichts zu sehen. Dafür gibt es mehrere Hypothesen: Entweder die 1,3 Millionen Einwohner sind bereit, jetzt diese Opfer in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu bringen. Oder den meisten Esten geht es gar nicht so schlecht, weil die Krise vor allem die Russen im Land trifft, die rund ein Viertel, in der Hauptstadt Tallinn sogar fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Und diese demonstrieren vielleicht nicht, weil sie ihre prekäre Situation nicht noch weiter gefährden wollen oder weil es ihnen in Estland immer noch besser geht als in Russland.

Auch hier bestimmt zweifellos der Standort den Blick auf die Lage.