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Eine Frage der Souveränität

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Wer EU-Staaten mit ökonomischer Gewalt zwingen will, Migranten aufzunehmen, erweist dem europäischen Gedanken keinen guten Dienst.


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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird, wenn nicht alles täuscht, im Herbst zum Schluss kommen, dass Staaten wie Polen oder Ungarn im Unrecht sind, wenn sie sich weiterhin weigern, eine nennenswerte Zahl von Migranten entsprechend jenem Schlüssel zu übernehmen, den die Union mehrheitlich, aber gegen den Willen der Osteuropäer, beschlossen hat. Denn juristisch deutet viel darauf hin, dass die Quotenregelung zur Aufteilung der Migranten auf die EU-Mitgliedsstaaten rechtlich korrekt zustande gekommen ist.

Doch viel spannender ist jene Frage, die sich im Herbst im Anschluss an den absehbaren Spruch der Höchstrichter stellen wird: Ist es a) vernünftig und b) zulässig, Polen und Ungarn in der Folge mit der Androhung finanzieller oder anderer Sanktionen einfach dazu zu zwingen, ihre ablehnende Haltung gegenüber der Ansiedlung von Migranten aufzugeben, wenn die das partout einfach nicht wollen? Im Kern geht es also letztlich um eine höchst spannende Frage: Ob innerhalb der EU der Nationalstaat das Recht haben soll, selbst zu entscheiden, wer sich auf seinem Staatsgebiet ständig aufhalten darf - oder ob er dieses Recht nicht mehr hat, weil es im Bedarfsfall von der Union overruled werden kann.

Es geht dabei also um ein ganz wesentliches Element staatlicher Souveränität. Deshalb ist auch das Argument, Polen oder Ungarn seien aufgrund der europäischen Verträge zur Aufnahme von Migranten verpflichtet, zwar juristisch vermutlich richtig, aber politisch nicht einmal annähernd ausreichend trittfest. Denn die europäische Geschichte
der letzten Dekade ist - leider -
eine Geschichte des massenhaften Rechtsbruches.

Wenn etwa Frankreich jahrelang und völlig ohne Sanktionen massiv gegen die (Defizit-)Regeln des Maastricht-Vertrages verstoßen kann, "weil es Frankreich ist" (EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker); wenn zur Rettung des Euro "alle Regeln gebrochen wurden" (IWF-Chefin Christine Lagarde); wenn in Italien am äußersten Rand der europäischen Legalität heuer wieder Banken mit Steuergeld gerettet werden - dann wird den Menschen in Polen oder Ungarn nicht wirklich plausibel zu erklären sein, warum ausgerechnet sie in einer für sie viel existenzielleren Frage von der Mehrheit der EU-Staaten gezwungen werden, sich an unerwünschte Verträge zu halten, während vor allem die großen Mitgliedsstaaten sich in vielen Fällen an Verträge halten, solange ihnen das opportun erscheint, und sie eiskalt brechen, sobald das opportuner ist.

Gerade in der Frage, ob der Staat noch die Souveränität über die Niederlassung Fremder auf seinem Territorium haben soll oder nicht, ist es daher sehr unklug, nur europarechtlich zu argumentieren und die Antwort damit letztlich den Richtern zu überlassen. Eine so elementare Frage gehört vielmehr politisch beantwortet, indem eben ein EU-weiter Konsens über die Souveränität oder Nicht-Souveränität der Staaten in dieser Causa gefunden wird - oder nicht.

Wenn hingegen große Staaten, die selbst einen legeren Umgang mit dem europäischen Recht pflegen, den kleineren mit rechtlichen Argumenten ihren Willen aufzwingen, wird das der europäischen Solidarität und Harmonie nur sehr mäßig dienen.