Vor Gericht kamen nur Helfershelfer. | Skepsis zwischen Moskau und Westen. | Moskau. Sie hatte stets für die Wahrheit und die Rechte anderer gekämpft. Dafür musste die russische Enthüllungsjournalistin Anna Politkowskaja heute vor drei Jahren mit ihrem Leben bezahlen. In manch anderer Gesellschaft wäre sie dadurch zu einer Ikone des Widerstands gegen eine mörderische Bürokratie geworden. Nicht so im apathischen Russland. Hier hat sich ein zynischer Konsens breit gemacht, dass im Prinzip jeder korrupt ist. Die Zeit läuft deshalb gegen Politkowskaja. Denn mit der Erinnerung an die mutige Journalistin schwinden auch die Chancen auf eine Verurteilung ihrer Mörder.
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Das wissen auch ihre Kinder und ehemaligen Redaktionskollegen, die gestern in Moskau eine gemeinsame Pressekonferenz gaben. "Es ist alles eine Frage des politischen Willens", erklärte Vera Politkowskaja, die ihrer zierlichen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten scheint. Der politische Wille wiederum werde vor allem vom Druck der Öffentlichkeit abhängen, fügte Sergej Sokolow, stellvertretender Chefredakteur der "Nowaja Gaseta", an.
Für Sokolow besteht "der politische Willen" aus sehr vielen, sich widerstrebenden Machtzentren. Dies sei auch der Grund für die vielen Wendungen seit dem Attentat vor drei Jahren: Eigentlich hatte die Staatsanwaltschaft bereits vor zwei Jahren erklärt, dass der Mordfall gelöst sei. Mit dem ehemaligen Polizisten Sergej Chadschikurbanow, dem Geheimdienstoffizier Pawel Rjagusow sowie den tschetschenischen Brüdern Ibragim und Dschabrail Machmudow wurden letztlich aber nur Helfershelfer vor Gericht gestellt. Die Geschworenen sprachen sie im vergangenen Februar frei, weil die Beweisführung der Anklage zu dürftig war.
Mutmaßlicher Mörderin Westeuropa
Als nun alle Hoffnung verloren schien, gab das Oberste Gericht diesen September den Fall überraschend an die Staatsanwaltschaft zurück, die nun neue Ermittlungen durchführen soll. Ein erneuter Prozess wird erst stattfinden, wenn die Auftraggeber oder der Mörder gefasst sind. "Die Ermittler haben eine neue Chance erhalten, es ist vermutlich ihre letzte", sagte Politkowskajas Sohn Ilja gestern.
Die Staatsanwaltschaft habe ihre Ermittlungen nun auf "bislang öffentlich nicht genannte Verdächtige" ausgeweitet, sagte Sokolow. Seine Zeitung führt selbst umfangreiche Recherchen in dem Fall durch. Sokolows Informationen zufolge befindet sich Politkowskajas mutmaßlicher Killer derzeit in Westeuropa und ist ständig "von einem Land ins andere" in Bewegung. Es handelt sich hierbei um den dritten Machmudow-Bruder namens Rustam.
Vergangenen April bestand offenbar eine reelle Chance für eine Verhaftung Machmudows. Doch die Rechtsbehörden des Aufenthaltslandes reagierten zu langsam. Der Ruf des russischen Justizsystems sei so miserabel, dass bereits jedes Rechtshilfegesuch aus Moskau im Westen mit sehr großer Skepsis behandelt werde, erklärte dazu Sergej Sokolow.
Auch Geheimdienst überwachte das Opfer
Rustam Machmudows Verhaftung dürfte indessen entscheidend sein, damit es zu einem weiteren Prozess und zur Aufklärung des Mordes kommt. Bis dahin kann über die Hintergründe der Tat nur spekuliert werden. Das Datum des Verbrechens - Wladimir Putins Geburtstag - spricht für ein politisches Motiv. Doch vielleicht wollten die Drahtzieher die Ermittler damit auch auf eine falsche Fährte locken.
Politkowskaja hatte viele Feinde. Sie war nicht nur eine prominente Kritikerin des Kremls. Und sie beschäftigte sich nicht allein mit den Menschenrechtsverbrechen des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Sie brachte auch Licht in tiefere Ebenen der korrupten russischen Bürokratie.
Es gibt Hinweise, dass Politkowskaja nicht nur von ihren Mördern beobachtet worden ist. Ein "zweiter Kreis der Überwachung" soll aus Geheimdienstleuten bestanden haben, die im Hintergrund das Vorgehen der unmittelbaren Attentäter verfolgten. Ob der politische Wille in Russland aber ausreichen wird, um Licht in diesen sensiblen Kreis zu bringen, ist äusserst fraglich.
Dies zeigt auch eine Episode am Rande: Die russischen Behörden erteilten Jean-François Juillard, dem Generalsekretär der Nichtregierungsorganisation "Reporter ohne Grenzen", keine Einreiseerlaubnis. Er wollte an der Pressekonferenz und an der heutigen Gedenkfeier teilnehmen.