Die Ukrainer wählen einen neuen Präsidenten. Ein Großteil der Bevölkerung ist von der Politik schwer enttäuscht.
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Lemberg. Langsam senkt sich der Abend über das geschäftige Treiben auf dem Prachtboulevard inmitten der westukrainischen Metropole Lemberg. Die Stadt quillt über vor Menschen, die den schönen Märztag nutzen, um die wärmenden Sonnenstrahlen nach den Wintermonaten zu genießen. Sie flanieren über den Freiheitsprospekt, der an das berühmte Lemberger Opernhaus aus der k.u.k.-Zeit anschließt, sitzen auf den Parkbänken, vergnügen sich.
Doch es ist auch Wahlkampf. Mit Ständen wird versucht, die von der Politik schwer enttäuschten Ukrainer für die Präsidentenwahl am Sonntag zu interessieren. Alle drei Wahlfavoriten - der Komiker Wolodymyr Selenskyj, Präsident Petro Poroschenko und Ex-Premierministerin Julia Timoschenko - haben Lemberg bereits besucht.
"Welch herrliches Land!"
Heute kommt ein anderer Politiker: Ex-Verteidigungsminister Anatoli Hryzenko, der Mann, der von vielen als Kandidat der prowestlichen demokratischen Post-Maidan-Kräfte bezeichnet wird. "Hry-zen-ko! Hry-zen-ko!", versucht ein Einpeitscher mit lauter Stimme, die überschaubare Menge vor der Bühne auf den Kandidaten einzustimmen. Es ist ein Heimspiel.
Vor kurzem hat Lembergs Bürgermeister Andrij Sadovyj zugunsten Hrytsenkos auf seine eigene Kandidatur bei der Präsidentenwahl verzichtet. Jetzt spricht er auf dessen Veranstaltung, redet von Patriotismus, vom Maidan, davon, welch herrliches Land doch diese Ukraine sei, welches Potenzial das Land besitze, was es alles herstelle, Helikopter, Raketen, dass es ein normales, reiches Land sein könnte - würde nicht eine "Bande" die Leute immer wieder ausrauben. Es brauche ehrliche Leute an der Macht. Ein Wort, das auch Hryzenko immer wieder betont: Ehrlichkeit. Er schlägt Sadovyj für den Posten des Premiers vor.
Die Chancen für den Lemberger Bürgermeister, den Posten unter einem Präsidenten Hryzenko auch wirklich zu bekommen, sind freilich gering. Denn Lemberg ist nicht Kiew, und Lemberg ist schon gar nicht Charkiw oder Odessa. Im russischsprachigen Osten und Süden der Ukraine kann man mit den national denkenden Westukrainern nur wenig anfangen - an diesen historisch bedingten Prägungen haben auch der Verlust der Krim und der Krieg in der Ostukraine nur wenig geändert.
Zwar ist die Popularität Russlands auch im Ostteil des Landes deutlich gesunken, dennoch kann etwa Juri Bojko, der Kandidat des Oppositionsblocks, der Nachfolgepartei des gestürzten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch, im Osten auf ein respektables Ergebnis hoffen.
Für die Lemberger hingegen ist Bojko ein rotes Tuch. Kurz vor der Hryzenko-Veranstaltung ist der aus Donezk stammende Mann nach Moskau geflogen und hat sich dort mit Premierminister Dmitri Medwedew ablichten lassen. Die Botschaft: Mit mir als Präsidenten wird es wieder zu einem Dialog mit Russland kommen. Etwas, das auf dem Freiheitsprospekt gar nicht gut ankommt. "Habt ihr das Foto von Bojko und Medwedew gesehen?", ruft ein Redner in die Menge. "Das ist Verrat!"
Spitzenreiter Selenskyj
Die Chance, dass es Bojko wirklich in die Stichwahl schafft, ist freilich gering. Mit der Krim und dem Donbass sind für das prorussische Lager in der Ukraine die wesentlichen Bastionen weggebrochen. Auch Hryzenko wird, glaubt man Umfragen, im Kampf um die begehrten Stichwahlplätze unterliegen - prowestlich-national orientierte Ukrainer dürften sich, trotz Sympathien für Hryzenko, eher für Poroschenko entscheiden, der sich mit Timoschenko, der Kandidatin der sozial Schwachen, ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den Einzug in die Stichwahl liefert.
In einer Umfrage liegen beide Kandidaten bei 17 Prozent, in einer anderen liegt Poroschenko voran. Bojko und Hryzenko bewegen sich zwischen 10 und 12 Prozent.
Einsamer Spitzenreiter in der Wählergunst scheint derzeit der Kabarettist und Schauspieler Wolodymyr Selenskyj zu sein. Er profitiert von der weit verbreiteten Frustration im Land. Mit mehr als 25 Prozent liegt der Mann aus dem südostukrainischen Krivyj Rih deutlich in Front. Selenskyjs Muttersprache ist Russisch, Ukrainisch hat er erst vor kurzem gelernt - ein Umstand, der ihn in Galizien Sympathien kostet, allerdings auch nur dort. In Umfragen liegt Selenskyj überall in Front - außer im Westen des Landes: "Selenskyj kann ich nicht wählen. Der ist ein russischer Propagandist", zeigt sich ein junger Mann skeptisch. Vor allem aus Poroschenkos Umfeld wird versucht, Selenskyj wegen seiner früher recht intensiven Beziehungen nach Moskau - der Kabarettist hatte auch in Russland mit seinen Shows Geld verdient und ist dort bis heute populär - ins schiefe Licht zu rücken.
Geschäftsmann, kein Lehrer
Knapp vor dem Wahltermin machten Meldungen die Runde, Selenskyj habe eine Villa in Italien nicht deklariert - das würde nicht in das Image des jugendlich wirkenden 41-Jährigen passen. Dieses Image ist auf seiner TV-Serie "Diener des Volkes" aufgebaut, in der er einen zutiefst anständigen Geschichtslehrer spielt, der nach einer Wutrede auf das ukrainische System, die von einem Schüler geheim aufgenommen und auf YouTube verbreitet wurde, zum Präsidenten gewählt wird - und dann energisch die Korruption bekämpft. Ob Selenskyj mit dem TV-Präsidenten Wassili Goloborodko identisch ist, ist allerdings fraglich. Gegner werfen ihm Verbindungen zum Oligarchen Ihor Kolomojski vor, einem Intimfeind Poroschenkos.
Auch ist Selenskyj kein mittelloser Lehrer, sondern ein mehr als erfolgreicher Geschäftsmann, der mehrere Luxuswohnungen in unterschiedlichen Städten besitzt. Außerdem ist sein Programm recht vage. Dennoch erwies sich Selenskyj bisher als eine Art "Teflon-Kandidat". Alle Vorwürfe prallen an ihm ab. Eine Stimme für ihn wird als Proteststimme gegen die alten ukrainischen Eliten der 1990er Jahre angesehen.