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Öffentliches Erinnern kann sich verschiedener äußerer Formen bedienen, beispielsweise der Veranstaltungsform · etwa jener des feierlichen Staatsaktes oder des aus Anlaß eines Gedenktages
abgehaltenen wissenschaftlichen Symposions · oder, wenn es besonders nachhaltige Wirkung haben soll, der Denkmalform.
Monumentalgebäude
Das Wiener Parlamentsgebäude, selbst ein "Monumentalgebäude", also ein Monument, ein Denkmal für den Geist der Zeit seiner Entstehung, ist im Laufe der Jahrzehnte durch Denkmäler verschiedener Art
zu einer Stätte der öffentlichen Erinnerung an verschiedene historische Persönlichkeiten und Ereignisse geworden: Die Hansen-Büste am Zentralportikus erinnert an seinen Erbauer, Gedenktafeln für die
Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unter den österreichischen Parlamentariern und für den 1934 hingerichteten Nationalratsabgeordneten Koloman Wallisch mahnen zur Erinnerung an die
finstersten Jahre der österreichischen Geschichte, eine Gedenktafel erinnert an die Ausrufung der Republik im Jahre 1918, Büsten sind den Nationalratspräsidenten Anton Benya und Alfred Maleta
gewidmet.
10. Dezember 1998
Eine weitere Gedenktafel, ebenfalls am Zentralportikus angebracht, ist am 10. Dezember 1998 von NR-Präsident Heinz Fischer und dem Zweiten Präsidenten Heinrich Neisser enthüllt worden. Sie ist
nicht einer historischen Persönlichkeit und weniger einem historischen Ereignis vielmehr der Idee gewidmet, die sich in diesem Ereignis artikuliert hat.
Auf den Tag genau 50 Jahre vor der Enthüllung nämlich · und dieser Umstand war maßgeblich für die Datumswahl · hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen nach längerer Vorbereitung die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet, die in ihrem Art. 1 die lapidare, aber umso gewichtigere Feststellung trifft: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."
Damit ist der Geltungsgrund aller Menschenrechte festgehalten, nämlich die Menschenwürde, und ist gleichzeitig eine Aussage darüber getroffen, daß einander Freiheit und Gleichheit, also jene
Prinzipien, zwischen denen gelegentlich ein Gegensatz konstruiert worden ist, wechselseitig bedingen.
Die Menschenwürde, wie sie die Allgemeine Erklärung versteht, ist, und dies macht diese Erklärung erst zu einer "Allgemeinen", nicht an ein bestimmtes kulturspezifisches Menschenbild gebunden. Die
Erklärung verzichtet auf jede Aussage über eine bestimmte Lebensform oder Lebensorientierung als dem Menschen gemachte Vorgabe, auf jede Anknüpfung an Faktoren wie etwa Religion, Sprache, ethnische
Zugehörigkeit oder politische Überzeugung, es genügt, ein Mensch und damit der Menschenwürde teilhaftig zu sein, um in den Geltungsbereich jener rechtlichen Standards zu fallen, welche die Erklärung
setzt.
Der große Erfolg
Das Setzen von menschenrechtlichen Standards kann als der große Erfolg benannt werden, den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erzielt hat. Ihrer ursprünglichen Rechtsnatur nach eine
unverbindliche Erklärung, sind die in ihr enthaltenen Postulate im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts nicht nur Orientierungsmarken für die positivierte Grundrechtsentwicklung im
internationalen wie im innerstaatlichen Bereich, sondern nach Ansicht von Völkerrechtslehrern bereits selbst allgemein anerkannte Regeln des Völkerrechts geworden.
Wenn wir uns in die Entstehungszeit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zurückzuversetzen versuchen, dann wird deutlich, wie große Bedeutung einer solchen zusammenfassenden Festschreibung
international zu garantierender Menschenrechte damals als einem ersten Schritt zur Verrechtlichung und Durchsetzbarmachung der Menschenrechte zukommen mußte.
Dreieinhalb Jahre erst waren vergangen, seit die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus überwunden worden war, welche die Menschenwürde so gering geachtet hatte wie kein anderes Regime zuvor.
Doch noch ehe die Welt aufatmen konnte, begann sich eine neue Bruchlinie durch die Völkergemeinschaft zu ziehen, die in Churchills berühmter Formulierung mit der Metapher vom "Eisernen Vorhang"
umschrieben wurde, jenseits dessen die Menschenrechte neuerlich bedroht waren. Gerade das Jahr 1948 hatte eine weitere Vertiefung dieser Kluft gebracht, die sich durch Europa zog.
Aber nicht nur in dem sich herausbildenden "Ostblock" waren die Menschenrechte bedroht. Große Teile der Welt befanden sich im Jahre 1948 noch unter Kolonialherrschaft, erst allmählich brach sich die
Erkenntnis Bahn, daß dies ein mit den Menschenrechten jedenfalls unvereinbarer Zustand war. Nur eine kleine Minderheit von Menschen kam, weltweit gesehen, im Jahre 1948 in den Genuß dessen, was wir
"Grundrechtsdemokratie" nennen, also eines Rahmens des Zusammenlebens in der staatlichen Gemeinschaft, der auf demokratischen Willensbildungsstrukturen und einer die Grundrechte verfassungsmäßig
verbürgenden rechtsstaatlichen Ordnung beruht.
Demokratie und Rechtsstaat
Demokratie und Rechtsstaat sieht auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Angelpunkte des Schutzes der Menschenrechte und der Achtung der Menschenwürde an. Bezieht sich bereits die
Präambel auf die "Herrschaft des Rechts", so nimmt Art. 21 auf das demokratische Wahlrecht nicht nur als elementares Menschenrecht, sondern in seiner Verwirklichung als Garantie gegen Verletzungen
der Menschenrechte Bezug. Als die beiden weiteren wesentlichen Rahmenbedingungen für die Verwirklichung der Menschenrechte leuchten aus der Erklärung das Prinzip der Sozialstaatlichkeit, also der
Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Existenzbedingungen der Menschen, und der Öffnung für eine internationale Ordnung hervor, welche die in der Erklärung verankerten Rechte mit Hilfe
entsprechender Instrumentarien umsetzbar machen soll.
Der Gestaltung dieser Instrumentarien ist in den vergangenen fünf Jahrzehnten viel Arbeit nicht nur, wie dies von den Autoren der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gedacht war, auf Ebene der
Vereinten Nationen, sondern auch auf Ebene anderer internationaler Organisationen wie etwa des Europarates gewidmet gewesen. Die beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, welche die
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gleichrangig neben die bürgerlichen und politischen Rechte stellen, und die verschiedenen Spezialkonventionen der Vereinten Nationen, wie etwa jene
gegen die Folter, legen davon ein ebenso namhaftes Zeugnis ab wie beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention, die im Rahmen des Europarates ausgearbeitet worden ist.
Realität am Ideal messen
Wenn am Ende dieses Jahrhunderts die Grundrechtsdemokratie als zumindest europaweit gültiger und wirksamer Standard angesehen und sie weltweit zumindest eingefordert werden kann, dann ist das eine
Situation, die vor 50 Jahren zwar angestrebt und vielleicht erhofft werden konnte, die jedoch eher eine politische Vision als ein Nahziel bildete.
Die Qualifizierung des Verhaltens leider noch immer allzu vieler Staaten als systematische oder im Einzelfall erfolgende Verletzung der Menschenrechte setzt diese als einen Standard voraus, dessen es
zunächst einmal bedarf, um feststellen zu können, daß er in einer bestimmten realen Situation nicht erfüllt ist.
Die jeweilige Realität am Ideal zu messen, bleibt freilich Aufgabe auch dort, wo, wie in Österreich, die formalen Strukturen seine Erfüllung erwarten lassen.
Wird die Funktion öffentlichen Erinnerns in der Stiftung gemeinsamer Identität gesehen, dann kommt der neuen Gedenktafel am Wiener Parlamentsgebäude gerade aufgrund ihrer prominenten
Lokalisierung die Funktion eines Zeichens dafür zu, daß die Idee der Menschenrechte und ihrer Achtung einen integrierenden und unverzichtbaren Bestandteil der Grundlagen des österreichischen
Staatswesens und damit der politischen Identität der Republik Österreich darstellt.Õ
Günther Schefbeck ist Leiter des Parlamentsarchivs.