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"Eine gefährliche Moralisierung"

Von Walter Hämmerle

Politik
Burger contra Fischer: "Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt." Foto: Newald

"Der Fall Strasser ist für mich kein moralisches Problem." | "Moralisierung der Politik ist gefährliche Entwicklung." | Atom: "Peinliche Überschätzung Österreichs." | "Wiener Zeitung": Der moralische Zustand von Österreichs Politik ist derzeit das zentrale innenpolitische Thema. Sind moralische Politiker automatisch auch bessere Politiker?


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Rudolf Burger: Nein, ich bin sogar vom Gegenteil überzeugt. Dass sich ein Politiker in seiner Privatsphäre genauso an die Gesetze und die Regeln familiärer Sittlichkeit halten soll wie jeder andere auch, ist eine Selbstverständlichkeit. Aber wenn das politische Handeln an familiären Maßstäben gemessen wird, dann wird diese Moralisierung selbst zu einer politischen Kategorie. Das halte ich für gefährlich.

Was trennt die familiäre von der politischen Moral?

Große Teile der griechischen Tragödie thematisieren die Kollision zwischen familiärer Moral und Staatsräson. Die Atriden-Tragödie zeigt das wunderbar auf: Agamemnon, König von Mykene, opfert seine Tochter Iphigenie, um von den Göttern günstige Winde für die Fahrt nach Troja zu erhalten. Aus der Sicht familiärer Moral ein schweres Verbrechen, als König jedoch handelt er aus Staatsräson. Konsequenterweise wird er nach der Rückkehr von seiner Frau Klytämnestra ermordet, woraufhin diese wiederum von ihrem Sohn Orestes getötet wird, eben weil dieser der Sohn des Königs ist.

Diese Sage zeigt den unlösbaren Konflikt zwischen familiären und politischen Moralvorstellungen. Unangenehm wird es allerdings dann, wenn eine der beiden Logiken auf die andere übergreift. Wenn die Politik ansetzt, die Familie zu zerstören, indem sie weit in die private Sphäre hineingreift. Ich musste noch Angst davor haben, in die Hitler-Jugend einrücken zu müssen. Aber auch umgekehrt ist es unerfreulich, wenn also die familiäre Moral das politische Denken bestimmt. Vor diesem Problem stehen wir heute, insbesondere in Österreich.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Affären um Grasser, Meischberger, Hochegger, Strasser und Co?

Ich will keinen dieser Korruptionsfälle verniedlichen, aber sie sollten als das behandelt werden, was sie tatsächlich sind: Korruption. Der Fall Strasser ist für mich überhaupt kein moralisches Problem, sondern ein einfacher Rechtsfall: Er hat sich als Abgeordneter zur Korruption angeboten, nicht mehr und nicht weniger. Zu erwarten, dass ein Politiker als Vorbild familiärer Moral auftritt, erachte ich als schädlich für die gesamte politische Sphäre. Und wenn nun Bundespräsident Heinz Fischer im ORF-Interview sagt. "Es nicht alles erlaubt, was nicht ausdrücklich gesetzlich verboten ist", dann wundert mich, dass es keinen Aufschrei gibt. Dass alles erlaubt ist, was gesetzlich nicht verboten ist, genau das ist das Prinzip des Rechtsstaats. Möglich, dass es moralisch verwerflich oder politisch nicht korrekt ist, aber erlaubt ist es selbstverständlich, ja muss es sein.

Welche Rolle für die Moralisierung von Politik spielt das Verschwinden der großen Ideologien?

Die Moralisierung des Politischen hängt zweifellos mit dem Zusammenbruch der großen politischen Heilsversprechungen zusammen. Hinzu kommt - das betrifft insbesondere kleinere Staaten wie Österreich, aber auch die gesamte EU - ein schwindendes Verständnis dafür, was ein Staat eigentlich ist. Wir denken nur noch in Kategorien des familiären Moralischen, die dann zu universeller Gültigkeit aufgeblasen werden. Konzeptionell denkt heute niemand, auch kein Politiker mehr, in Kategorien des Staatlichen.

Wo liegt die Grenze zwischen Staatlichem und Privatem?

Das beginnt mit der Anerkennung des Unterschieds zwischen privater und öffentlicher Sphäre, einfach weil sie anderen Logiken gehorchen, ja gehorchen müssen. Dazu gehört die Akzeptanz staatlicher Grenzen - sowohl räumlich wie auch was die Möglichkeiten angeht. Nach der Katastrophe in Japan die Erwartung zu wecken, Österreich könne den EU-weiten Ausstieg aus der Atomenergie erreichen, da hört sich jedes politische Denken auf. Wir haben weniger Einwohner als ein Vorort von Kairo und maßen uns trotzdem an, der Welt zu weisen, wohin sie gehen soll. In meinen Augen ist das nur mehr peinlich.

Auf der politischen Agenda rangieren nun einmal Ausbau und Erhalt des Wohlfahrtsstaates vor grundsätzlichen Überlegungen über Grenzen des Staatlichen.

Ich nenne das eudaimonistischen Humanismus, bei dem es nur noch um das schöne Leben als verallgemeinertes Handlungsprinzip geht. Die Tendenz geht in Richtung einer Familiarisierung des Denkens in allen Bereichen. Vergleichen Sie nur die Nachrichtensprecher im österreichischen TV mit denen in Deutschland oder Italien: Bei uns reden sie, als ob sie zur Familie gehörten, als Zuseher wird man direkt angesprochen. Diesen verheirateten Ton gibt es in der gesamten Innenpolitik.

Sie plädieren für das Primat der Staatsräson im Bereich des Politischen. Die Politik aber rechtfertigt ihr Handeln zunehmend moralisch: Geschäfte mit Diktatoren werden kritisiert, die Menschenrechte als Norm für staatliches Handeln gefordert.

Ich weiß, ich befinde mich hier in einer Minderheitsposition, aber ein solches Denken entspricht für mich nicht den Kategorien des Politischen, in der Tendenz erachte ich es sogar für gefährlich. Der Begriff der Realpolitik wird heute fast nur abwertend verwendet, dabei bedeutet er nicht, unmoralisch zu agieren, es geht um das Abwägen: Machtkonstellationen, Kosten und Nutzen - all das muss man einander gegenüberstellen. Solcher Realismus hat per se nichts mit nationalistischer Machtpolitik zu tun, sondern entspringt zuallererst der Verpflichtung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Fast alle Politiker sind auf das Wohl der eigenen Bürger vereidigt und nicht - so zynisch das klingen mag - auf das Wohlergehen eines Stammes in Libyen.

Aber darf man das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung absolut setzen?

Man darf nie etwas absolut setzen, politisches Denken besteht im Kern darin, niemals Positionen oder Ziele absolut zu setzen. Jede politische Aussage ist, so hat der Schriftsteller Franz Blei gesagt, ein lautes Entweder, das sich auf ein leises Oder eingelassen hat.

Hinzu kommt, dass auch unter dem Deckmantel der Moral weiter nationale und partikulare Interessen verfolgt werden. Heute werden Kreuzzüge im Namen der Menschenrechte geführt. Auch die Intervention in Libyen erachte ich als schweren Fehler. Sie findet nur statt, weil der Herr Sarkozy Angst vor der Frau Le Pen (Marine, Chefin des Front National; Anm.) hat. Solche Konflikte werden nie zu Ende geführt, was bleibt, ist ein ewiger Unruheherd. Wenn man die Menschenrechte zum absoluten Prinzip erhebt, dann bedeutet das in letzter Konsequenz den permanenten Weltkrieg. Dann muss man nicht nur in Libyen, sondern auch im Iran, in Syrien, Bahrein und natürlich China intervenieren. Das wäre völlig absurd.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Moralisierung des Politischen?

Das glaube ich nicht, das wird sich eher noch verstärken durch den zunehmenden Einfluss der Medien. Der Philosoph Theodor W. Adorno hat einmal gesagt: "Bei manchen Menschen ist es schon eine Beleidigung, wenn sie nichts sagen". Im Journalismus kennt man das von Leserbriefen, wo unbekannte Menschen schreiben: "Ich bin der Meinung, dass .. .", ohne dass klar wäre, wer dieses Ich überhaupt ist. Das gleiche Phänomen wird durch das Internet weiter potenziert.

Viele sehen aber darin einen Fortschritt, da dadurch Politik demokratisiert, Partizipation verstärkt werden.

Diese Möglichkeit besteht, ich bin allerdings skeptisch. Natürlich bieten Kommunikationsformen wie Facebook oder Twitter die Chance auf Emanzipation in autoritären oder diktatorischen Regimen. Gleichzeitig geht damit eine ungeheure Kontrolle des Sozialen einher: Die Gefährdung geht dann nicht mehr vom Staat aus, sondern von der Gesellschaft. Es ist heute zu einer Aufgabe staatlichen Handelns geworden, die Gesellschaft vor sich selbst zu schützen. Ob etwas fortschrittlich oder reaktionär, emanzipatorisch oder repressiv wirkt, entscheidet sich immer erst in der Situation. Ich warne nur vor Euphorie, denn diese neuen Medien delegitimieren auch das politische Handeln als solches. Heute wird allzu leicht vergessen, dass es Herrschaftsapparate braucht, um überhaupt eine befriedete Gesellschaft zu schaffen beziehungsweise zu erhalten. Der Staat muss die Balance zwischen Ordnung und Unordnung aufrechterhalten, damit Freiheit möglich wird. Bei Paul Valéry heißt es: "Die größten Feinde des Menschen sind Ordnung und Unordnung. Die Korruption widert mich an, aber die Tugend lässt mich schaudern."

Zur Person

Rudolf Burger gilt als einer der renommiertesten Philosophen Österreichs. Geboren 1938 in Wien, studierte er technische Physik an der TU Wien. Ab 1987 Professor für Philosophie an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, deren Rektor er von 1995 bis 1999 war.