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"Eine großartige Erfindung"

Von Simone Schlindwein

Reflexionen
Natalie Munjo gehört zu den Frauen, die in der Fabrik eine neue Existenz gefunden haben.
© Anne Ackermann

In den Flüchtlingscamps in Uganda entstehen neue Arbeitsmöglichkeiten. Zum Beispiel eine Fabrik, in der kongolesische Frauen Damenbinden herstellen.


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Jedes Mal, wenn Natalie Munjo den Hebel der Schneidemaschine hinunter drückt, verzieht sie leicht das Gesicht - vor Schmerzen. Die Hand, mit der sie die Maschine bedient, ist von Brandwunden überzogen. Die vernarbte Haut wirkt zum Zerreißen gespannt. Dennoch: Im Minutentakt nimmt die 21-jährige Kongolesin tapfer eines der dicken Papiertücher vom Stapel, klemmt es auf das Schneidebrett und drückt dann mit aller Kraft mit dem Hebel die Klinge hinunter.

Bis zu 4000 Tücher am Tag schneidet sie in schmale Streifen. Knapp zehn Stunden lang. Eine Sisyphos-Arbeit. Doch Munjo jammert nicht. Die Flüchtlingsfrau aus dem Kriegsgebiet des Ostkongo hat bereits Schlimmeres erlebt. "Die Arbeit an der Schneidemaschine ist jetzt meine einzige Hoffnung", sagt sie flüsternd.

Munjo ist eine hübsche junge Dame, die ihren kurvigen Körper unter einem langen Seidengewand versteckt. Ihr krauses Haar hat sie mit einem gehäkelten Häubchen eng an ihren Kopf gesteckt. Sie wirkt zurückhaltend, in sich gekehrt - darauf bedacht, bloß nicht zu sehr aufzufallen. Auf ihren hängenden Schultern liegt eine schwere Last, so scheint es. Sie hebt nur selten den Kopf, um ihr Gegenüber anzusehen, dann kann man die dunklen Schatten unter ihren großen Kulleraugen und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn sehen.

Tabuisierte Leiden

Munjo ist eine von rund 30 Kongolesinnen, die in einem Flüchtlingslager im Nachbarland Uganda eine Arbeit gefunden haben: Sie stellen Damenbinden her - Bioprodukte aus Altpapier und Naturrohstoffen wie Papyrus. Fast 100 Prozent biologisch abbaubar und ein Riesen-Fortschritt für die Hygiene der Frauen im Flüchtlingslager. Denn sie alle wurden wie Munjo nicht nur aus ihrer Heimat vertrieben, sondern auch mehrfach vergewaltigt. Die inneren Verletzungen und Infektionen als Folge des brutalen Missbrauchs führen dazu, dass diese Frauen und Mädchen auch Jahre nach der Tat mitunter permanent bluten. Ein Problem, das unzählige Opfer sexueller Gewalt haben, das jedoch stets tabuisiert wird.

Munjo spricht sehr offen darüber, ohne irgendwelche Scham. "Ich habe mir mit alten Klamotten die Unterhosen ausgestopft, doch das hielt meistens nicht einmal ein paar Stunden lang, bis mir das Blut die Beine hinablief", erzählt sie. Die Damenbinden - Makapads genannt - hätten ihr wieder Würde und Bewegungsfreiheit gegeben, berichtet Munjo. "Eine großartige Erfindung", sagt sie und lächelt dabei ein wenig.

Munjos Geschichte ist ein immer wiederkehrendes Beispiel für das Leid der Frauen und Mädchen im Kongo, wo sexuelle Gewalt zur Kriegswaffe geworden ist. Doch auch eine Geschichte, die die besondere Tapferkeit dieser Frauen ausdrückt, denen es gelingt, an einem anderen Ort wieder ein neues Leben aufzubauen.

Die hübsche Munjo mit den großen dunklen Augen und dem hellen Teint war mit 16 verheiratet worden, da ihre Eltern kein Geld für die Schulbildung und den Unterhalt hatten. Sie lebte damals mit ihrem Mann zusammen. Er war älter, ein angesehener Arzt, der oft verletzte Soldaten versorgte. Sie selbst hat nie etwas gelernt. Sie kochte und putzte, konnte weder richtig schreiben noch lesen.

Mit 19 Jahren erwartete sie ihr erstes Kind, als im November 2008 die Tutsi-Miliz unter General Laurent Nkunda sich rüstete, die Millionenstadt Goma in der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu einzunehmen. Die Rebellen streiften durch die Dörfer, Soldaten der kongolesischen Armee wurden in den Dschungel geschickt, um die Miliz zu stoppen. Wer die Uniformierten waren, die Munjo nachts aus dem Bett zerrten - ob Soldaten oder Rebellen -, das weiß sie bis heute nicht.

Die Erinnerungen seien noch immer so präsent, als sei es gestern gewesen, gibt sie zu. Ihre Lippen beben. Sie muss sich erschöpft auf den Schemel neben ihrem Arbeitsplatz setzen. Dann starrt sie eine Weile auf ihre vernarbte Hand in ihrem Schoß. Will sie die Geschichte ihrer Flucht tatsächlich bis zum Ende erzählen? Sie hat Tränen in den Augen, aber sie nickt tapfer. Dann sprudeln urplötzlich die Erinnerungen an die Nacht aus ihr heraus, als die Männer sich an ihr vergingen.

Ihr Ehegatte musste dabei zu- sehen. Munjo war hochschwanger. Der Fötus habe die vierfache Vergewaltigung nicht überlebt, flüstert sie. Als die Uniformierten von ihr abließen, zerrten sie sie nach draußen und verrammelten die Hütte, in welcher ihr Mann eingeschlossen war. "Sie warfen eine Granate und die Hütte brannte", berichtet sie. Die Tränen rollen ihre Wangen hinab. Ihr Mann starb in den Flammen, an welchen sie sich die Hand verglühte, als sie ihn retten wollte. Doch sie hatte keine Chance.

In Sicherheit

Halbnackt und barfuß kroch Munjo tagelang durch das Unterholz des Dschungels. 30 Kilometer westlich erreichte sie hoch oben in den Vulkanbergen die Grenze zu Uganda. "Ich saß dort lange Zeit weinend am Grenzpfosten und habe mich nicht auf die andere Seite getraut, denn ich kann doch kein Englisch", erzählt sie in gebrochenem Französisch. Ihre Rettung kam in einem Lastwagen angerollt. Der Fahrer sprach ihre Sprache, Kisuaheli, nahm sich ihrer an und brachte sie in Ugandas Hauptstadt Kampala, wo er sie vor einer Polizeistation absetzte, erzählt sie. Sie lächelt, als sie von der hilfsbereiten Polizistin berichtet, die ihr auf Kisuaheli versicherte, dass sie in Uganda bleiben dürfe. Seitdem lebt sie im Flüchtlingslager.

Das Camp "Kyaka" liegt nur wenige hundert Kilometer von der kongolesischen Grenze entfernt in Westuganda. Kyaka ist eine Siedlung aus einfachen Lehmhütten mit Wellblechdächern entlang ein paar staubiger Straßen. Zwischen den Häuschen stehen Bretterbuden, in welchen Seife, Streichhölzer, Maismehl, Tomaten, Bananen, Zucker und Salz angeboten werden. Doch nur wenige der rund 16.000 Flüchtlinge, die in Kyaka leben, können sich das leisten. Die meisten sind auf die monatlichen Nahrungsmittellieferungen der UN-Flüchtlingskommission UNHCR angewiesen: 15 Kilogramm Mais, zwei Kilo Bohnen, zwei Flaschen Bratöl - das ist alles, wovon sich Munjo ernährte - zumindest bis sie die Arbeitsstelle in der Damenbinden-Produktion erhielt. Seitdem verdient sie monatlich umgerechnet rund 30 Euro und kann davon Zucker und Tomaten vom Händler in dem Bretterverschlag kaufen.

Hilfe zur Selbsthilfe

Für ein armes Land wie Uganda ist es nicht leicht, den Bedürfnissen der Flüchtlinge gerecht zu werden. Nach jahrzehntelangen blutigen Bürgerkriegen in den Nachbarländern Kongo, Südsudan und Ruanda sind die Lager überfüllt. Selbst aus dem entfernten Somalia, aus Eritrea und Äthio-pien suchen Vertriebene in Uganda Schutz. Fast täglich stellen Dutzende Afrikaner an Ugandas Grenze Flüchtlingsanträge, die fast alle genehmigt werden: "Wir sind das Land in Afrika mit der liberalsten Flüchtlingspolitik", erklärt Flüchtlingsminister Musa Ecweru stolz. Dennoch runzeln sich auf seiner Stirn Sorgenfalten: Über eine halbe Million Flüchtlinge könne Uganda nicht eigenständig unterhalten, sagt er.

Deswegen musste sich Minister Ecweru Alternativen überlegen: 2009 wurden langfristige Aufenthaltsmöglichkeiten geschaffen. Die zuvor vorübergehenden Lager wurden zu permanenten Siedlungen umgebaut. Und: Es mussten Ideen her, wie die Flüchtlinge diejenigen Produkte, die sie dringend benötigen, kostengünstig selbst herstellen können. Zum Beispiel die Damenbinden. Feierlich eröffnete Minister Ecweru 2009 die erste Produktionsstätte im Kyaka-Lager, die mit Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) errichtet wurde.

Das Verfahren ist so genial wie simpel. Doch es benötigte Ugandas berühmtesten Erfinder, um auf diese Idee zu kommen. Moses Musaazi ist promovierter Elektroingenieur an der Technologischen Fakultät von Ugandas Makerere- Universität. Die amerikanische Rockefeller-Stiftung stellte ihm Geld zur Verfügung, um ein Verfahren zu erfinden, wie man die im Westen hergestellten Damenbinden umweltgerecht in Afrika entsorgen kann. "Daraufhin kam ich auf die Idee, diese Binden aus natürlichen Rohstoffen einfach selbst herzustellen", erklärt Musaazi. Er suchte nach einem Stoff, der rasch Blut aufsaugen kann, billig und umweltfreundlich ist. "Papyrus war die Lösung für all diese Probleme", sagt er lachend.

Papyrus wächst in großen Mengen unweit des Flüchtlingslagers in einem der zahlreichen Sümpfe Ugandas. In Kombination mit saugstarkem Altpapier ergab dies einen äußerst kompakten Kern, der als Binde zweckmäßig ist. So entstand das Makapad.

Organisierter Ablauf

Regelmäßig kommen nun seit rund drei Jahren in Kyaka Lastwagen angefahren, um Säcke mit den alten Zeitungen vor den zwei Backsteingebäuden abzuliefern, in denen Munjos Schneidemaschine steht. Das Papyrus-Gras wird auf Leiterwagen von den Sümpfen angekarrt - dann kann es losgehen.

Juliette Nakipuri hatte die Produktion 2008 zum Laufen gebracht: Jeden Ablauf, jeden Trick, jeden Schnitt und jede Falttechnik, die die kongolesischen Arbeiterinnen heute im Gleichtakt beherrschen, musste sie mühsam mit ihnen einstudieren - in einem sprachlichen Kuddelmuddel aus Englisch, Französisch und Kisuaheli.

Nakipuri wirbelt zwischen den Trockenständern im Hof der Werkstatt umher. Sie hält einen Holz-Rahmen mit einem feinmaschigen Gitter aus Draht in der Hand. Mit diesem Rahmen werde die klebrige Masse aus dem Wasser geschöpft und dann in der Sonne getrocknet. "Die UV-Strahlen töten alle Bakterien darin ab", sagt sie. Nach wenigen Stunden verwandle sich in der Mittagshitze der Papyrus-Altpapier-Brei zu steifem Papier. In den Werksräumen werden diese harten Blätter dann so lange durch eine Walze gedreht, bis sie weich und elastisch sind und in Streifen geschnitten werden können.

In den vergangenen Jahren wurde die Produktion der Makapads in Ugandas Flüchtlingslagern stetig ausgebaut, sodass sich die Binden auch jenseits der Camps vermarkten lassen. Dies hilft nun auch den Schülerinnen: Eine Studie der Makerere-Universität hatte 2006 ergeben, dass in Uganda fast 90 Prozent der Mädchen dem Unterricht fernbleiben, wenn sie ihre Monatsblutung haben, weil sie sich die importierten Binden oder Tampons nicht leisten können. Seitdem die Makapads für umgerechnet 25 Euro-Cents im Supermarkt zu kriegen sind, haben sich diese Zahlen deutlich verringert.

Simone Schlindwein, 36, lebt seit acht Jahren in Uganda und berichtet aus Uganda, Ruanda, Burundi, Kongo und der Zentralafrikanischen Republik.