Unklarheit in Afghanistan über die weitere internationale Truppenpräsenz löst Kapitalflucht aus und schreckt Investoren ab.
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Kabul. Im Jahr 1893 hat Afghanistan elf Kanonen nach Japan exportiert, erinnert man sich heute gerne in Kabul, wenn die Rede auf die Anfänge der heimischen Industrie fällt. Im Jahr 2001, dem Ende der Taliban-Herrschaft, war im Land am Hindukusch ein Neustart notwendig - nachdem zwanzig Jahre lang ein unerbittlicher Bürgerkrieg gewütet hatte, der nichts von der ohnehin nicht üppigen Industriesubstanz übrig gelassen hatte, außer durchlöcherten und geplünderten Fabriksruinen. Der Wiederaufbau der vergangenen Jahre war durchwachsen - und die wenigen Erfolge werden durch den Abzug der internationalen Kampftruppen mit Ende 2014 bedroht.
"2001, nach 9/11, haben wir wieder ganz von vorne angefangen", erzählt Navid, Sekretär der afghanischen Vereinigung der Papierverarbeitenden Industrie, und starrt lange nachdenklich in die Luft. "Wir hatten große Hoffnung", sagt er, und holt aus dem Kasten Exemplare der neuesten Schulbücher zur Veranschaulichung. Seit 2001 sei Geld für Wiederaufbau in das Land geflossen, erzählt er, während er die frisch gedruckten Seiten eines Biologiebuches durch seine Finger laufen lässt. Der Großteil der Gelder sei jedoch nicht dazu verwendet worden, eine nachhaltige Industrie aufzubauen. "Das zur Verfügung stehende Kapital wurde in Richtung Handel geleitet - genau zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Nato-Soldaten", erklärt Navid. "Dabei würden wir (die Industrie, Anm.) doch mehr Wertschöpfung erzielen", gibt er sich bedauernd.
Afghanistans Wirtschaft ist, nicht zuletzt aufgrund der weithin fehlenden staatlichen Industriepolitik der Regierung Hamid Karzai, extrem importabhängig. Güter im Wert von sechs Milliarden US-Dollar werden jährlich eingeführt -bei Exporten von mickrigen 400 Millionen Dollar (wobei hier der afghanische Exportschlager - Opium - nicht eingerechnet ist). Bei den Ausfuhren dominieren landwirtschaftliche Produkte - frisches Obst und Trockenfrüchte -, aber kaum industrielle Erzeugnisse.
Nur bei ganz wenigen Produkten ist man nicht auf Importe angewiesen. Plastikrohre etwa stellt man mittlerweile in genügender Menge selbst her. Oder Kartons - sei es für Obst oder Zahnpasta. Als Industriezentren gelten heute die Hauptstadt Kabul, das nördliche Mazar-i-Sharif, Jalalabad und das südliche Kandahar. Kürzlich wurden fünf weitere Fabriken in einem Industriepark in der Provinz Kandahar eröffnet, die Gesamtzahl beläuft sich nun auf 86. Je knapp zehn Prozent steuern Industrie sowie Handwerk zum afghanischen Bruttoinlandsprodukt bei.
Kampf an allen Fronten
Warum in den vergangenen Jahren nicht mehr erreicht wurde, dafür sieht Navid verschiedene Gründe. Einerseits sei das Land nicht bereit für den freien Wettbewerb - gegen Konkurrenz aus Indien, China oder auch Deutschland könne man sich nicht durchsetzen. Zudem hätte die Regierung Industrietreibenden keinen günstigen Grund und Boden zur Verfügung gestellt oder auch nicht Energie und Strom für Industriebetriebe subventioniert. Im Gegenteil - die Kilowattstunde Strom ist für die Industrie mindestens doppelt so teuer, wie für Privathaushalte.
Nicht zuletzt tragen die Sicherheitsprobleme im Land das ihrige bei. Sogar in die körperliche Sicherheit müsse man selbst investieren, erklärt Navid. Sein Chef lebt - wie auch andere größere Wirtschaftstreibende, die Zielscheibe für kriminelle Banden sind - aus Sicherheitsgründen in Dubai. Vor nicht allzu langer Zeit war einem Fabrikanten im westafghanischen Herat die Leiche seines Sohnes geschickt worden. "Sogar mit so etwas muss ich mich beschäftigen", beklagt Navid.
Aber auch der Export afghanischer Produkte erweist sich aufgrund der volatilen Sicherheitslage nach wie vor schwierig. Afghanischen Medien zufolge wurden in den ersten sechs Monaten 2013 alleine am Kandahar-Kabul-High-
way 250 Lkws mit Gütern in Brand gesetzt und mehrere Fahrer getötet. Viele Unternehmer beschweren sich über die Zusammenarbeit vor allem mit Pakistan, dem wichtigsten Handelspartner: Afghanische Güter würden am Zoll oft unbegründet wochenlang aufgehalten. Aber auch die eigenen Behörden setzen ihnen zu. Afghanistan gehörte laut Transparency International 2013 mit Somalia und Nordkorea erneut zu den drei korruptesten Ländern der Welt.
Umstellung der Wirtschaft
Davood Moradian, Direktor des Afghanischen Instituts für Strategische Studien, ein Think Tank in Kabul, zeigt sich mit dem seit 2001 Erreichten hingegen nicht unzufrieden. "In den vergangenen zwölf Jahren haben wir es geschafft, das Fundament einer funktionierenden Dritte-Welt-Wirtschaft zu legen", sagt der Analyst. Alle Basiselemente dafür seien vorhanden - von billigen Arbeitskräften über einen funktionierenden Dienstleistungssektor bis hin zu echtem Kapital: 20 Milliarden US-Dollar stünden dem Privatsektor heute zur Verfügung, die Abhängigkeit von ausländischen Investitionen sinke kontinuierlich.
"Die Herausforderung ist nun aber, den durch die Nato-Truppen-Präsenz künstlich aufgeblasenen Dienstleistungssektor mit teils absurden Löhnen wieder zu berichtigen." Über 300.000 Arbeitsplätze sind lokalen Medien zufolge direkt oder indirekt an die Militärs gekoppelt. Dass diese das Land bis Ende des Jahres verlassen, sei gut, da die extrem hohen Löhne qualifizierte Leute veranlassten, einfachen Jobs nachzugehen. "Vorausgesetzt der politische Übergang funktioniert (am 5. April wird ein neuer Präsident gewählt, Anm.), wird die Umstellung der Wirtschaft zwar eine harte Landung werden, aber kein Desaster."
Alle Investitionen auf "Stopp"
Aber gerade der politische Machtwechsel macht vielen Wirtschaftstreibenden Sorgen. Bereits seit der Ankündigung des Abzugs der Nato-Kampftruppen vor zwei Jahren rasseln wirtschaftliche Indikatoren nach unten. Laut Asian Devolopment Bank ist das BIP-Wachstum von 14 Prozent im Jahr 2012 auf gut drei Prozent 2013 gesunken. Die weiterhin offene Unterzeichnung des bilateralen Sicherheitsabkommens zwischen Afghanistan und den USA, von dem die Präsenz internationaler Truppen für die Zeit ab 2015 abhängt, vertreibt Investoren, die bisher die Nerven noch nicht weggeworfen hatten, endgültig. Die Unternehmensgründungen sind das zweite Jahr in Folge rückläufig. Fragt man Klein- und Mittelständler in Kabul, berichten diese von Umsatzeinbußen von bis zu 60 Prozent 2013. Die afghanische Bankenunion gab kürzlich bekannt, die Unsicherheit über die Zukunft des Landes habe eine Kapitalflucht ausgelöst.
Navid, der stolz eine lokal erzeugte Medikamentenschachtel in der Hand dreht, will auf die Zukunft angesprochen aber trotz aller Herausforderungen positiv bleiben. "Wenn es Sicherheit gibt, haben wir keine Angst vor der Zukunft", sagt er. Und als Muslim sei er schon der Religion nach dazu angehalten, Hoffnung zu haben.