Die Ganztagsschule als bildungspolitisches Brennglas.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Debatten über die Ganztagsschule sind in Österreich ein unübersichtliches, von parteipolitischen Gräben durchzogenes und vielerorts ideologisch vermintes Gelände. Sie sind für alle Beteiligten anstrengend und einigermaßen ermüdend, denn die Argumente (beziehungsweise teils auch Scheinargumente) sind weitgehend ausgetauscht, wenngleich erfolglos.
Distanzierten Beobachtern verspricht die Diskussion allerdings immerhin insofern noch interessante Einblicke, als sie eine Vielzahl bekannter Problemzonen des Schulsystems gleichsam unter dem Brennglas bündelt: Kaum ein anderes bildungspolitisches Thema macht (vielleicht abgesehen von den Auseinandersetzungen um Gesamtschule und Gymnasium) die Diskrepanzen zwischen den aus unterschiedlichen Perspektiven an die Schule gerichteten Anforderungen, Erwartungen und Wünschen von Schülern, Lehrern und Eltern, Politik und Pädagogik, Wirtschaft und Wissenschaft dermaßen deutlich.
Nur der naive Geist glaubt heute noch, in der Schule könne es einfach um das Lernen und die Entwicklung von Kindern/Jugendlichen im Rahmen des jeweils aktuellen Lehrplans gehen. Eine differenzierte Diagnose sieht demgegenüber, dass die Schule als gesellschaftliche Institution in ein dichtes, teils widersprüchliches Zielsystem eingebettet ist und die Bewältigung der daraus resultierenden Spannungen einen stetigen Balanceakt erfordert: Die Schule soll individuelle Bedürfnisse ebenso wie gesellschaftliche Bedarfe bedienen, sie soll sich an professionellen Werten und an budgetären Wirklichkeiten orientieren, sie soll es allen recht machen und niemandem wehtun.
Die Ganztagsschule gilt in dieser Situation den einen als bildungspolitischer Königsweg, den anderen hingegen als Holzweg - während die empirische Forschungslage zur (pädagogischen) Wirksamkeit weiterhin eher "unübersichtlich" bleibt, wie zum Beispiel der "Nationale Bildungsbericht" aus dem Jahr 2018 etwas resignativ resümieren musste.
Vor(ur)teile
In der politischen Dimension wird in besonderem Maße die Förderung von Bildungsgerechtigkeit ins Treffen geführt, also dass formale Bildungsabschlüsse weniger vererbt werden, wenn deren Erlangung nicht mehr so stark vom jeweiligen Elternhaus sowie dessen Ressourcenausstattung abhängt. Dem steht die Gefahr der verstärkten Delegierung von Verantwortung gegenüber, wenn sich Erziehungsberechtigte dann noch weniger als bisher für den Schulerfolg des Nachwuchses verantwortlich fühlen müssten.
In der ökonomischen Dimension wird mit Blick auf den Arbeitsmarkt betont, dass durch die Ganztagsschule weniger Betreuung zuhause erforderlich sei, weshalb Eltern und hier vor allem Mütter in höherem Maße dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Stiegen zugleich die Chancen auf schulischen Erfolg, produzierte also das Schulsystem weniger Abbrecher, Analphabeten und Arbeitslose, könnte dies eine langfristige Ersparnis für staatliche Unterstützungssysteme bringen.
In der sozialen Dimension wird in erster Linie darauf hingewiesen, dass die Ganztagsschule in Bezug auf Sozialkompetenz von Vorteil sei, weil soziale Lerngelegenheiten geschaffen würden und weniger Vereinsamung der Schüler (durch Internet, Gaming etc.) drohe. Zugleich sind die Auswirkungen aufs Gemeinwesen noch unklar, weil die außerhalb der Schulzeit nur noch kaum flexibel verfügbare Freizeit vor allem im ländlichen Raum die Vereine um ihren Nachwuchs bangen lässt.
In der kulturellen Dimension wird auf die Ausweitung schulischer Ausbildungsinhalte hingewiesen (Kritikfähigkeit in Zeiten von Fake News, Gesundheitsbewusstsein in Zeiten von Fast Food), wofür mehr Zeit verfügbar sein müsse. Doch steht die Ganztagsschule zugleich unter Ideologieverdacht, weil geringere Einflussmöglichkeiten der Familie auf neue Chancen für staatliche Zugriffe träfen und ehemals private Bereiche der Erziehung nun auf die Agenda staatlicher Steuerung gesetzt würden.
Verwirrung
Wie man es auch dreht und wendet: Den zwei zentralen Positionen in diesen und anderen Punkten, die letztlich alle auf die Frage Pro oder Contra Ganztagsschule hinauslaufen, scheint eine (implizite) Entscheidung zwischen zwei klassischen Prinzipien zur Koordination des sozialen Handelns zugrunde zu liegen: Hierarchie des Staates einerseits, Wettbewerb des Marktes andererseits. Dazu kommt, dass Vertreter der diametral entgegengesetzten Positionen in diesem Meinungsstreit sich vor allem an den Nachteilen der jeweiligen Gegenposition abzuarbeiten pflegen, anstatt deren Vorteile anzuerkennen und zugleich die Nachteile der eigenen Position in Rechnung zu stellen.
So weisen Verfechter einer verpflichtenden Ganztagsschule auf die mutmaßlichen Nachteile der Halbtagsschule hin - und umgekehrt. Dies führt in eine unerfreuliche, argumentative Patt-Situation, die der Physiker und Philosoph Herbert Pietschmann einmal als "H-X-Verwirrung" bezeichnet hat, weil die Diskussion gewissermaßen "übers Kreuz" geführt wird. Gewissermaßen als Kollateralschaden bringt dies zudem die im schulischen Kontext (früher) eine wesentliche Rolle spielende Profession als drittes klassisches Koordinationsprinzip neben Hierarchie und Wettbewerb unter zusätzlichen Druck - nämlich zugleich unter die Räder des Staates einerseits und unter jene des Marktes andererseits.
Angesichts der (trotz zahlreicher Befunde aus der empirischen Bildungsforschung) noch immer fehlenden eindeutigen Evidenzen für die Erreichung der mit ganztägigen Formaten beabsichtigten Effekte, allen voran verbesserte Kompetenzentwicklung sowie als erhoffte Folgewirkung verringerte strukturelle Benachteiligung, bleibt die Debatte über die Ganztagsschule also eine gesellschaftspolitische und ideologisch imprägnierte, wenngleich keine im engeren Sinne bildungspolitische, sondern eher eine bildungsökonomische Auseinandersetzung.
Es scheint weniger um mehr Gerechtigkeit im Sinne einer Entkopplung formaler Bildungsabschlüsse vom Elternhaus (Effektivität) oder um mehr Wirtschaftlichkeit im Sinne eines positiven "return on investment" für Bildungsinvestitionen (Effizienz) zu gehen, sondern vielmehr um die staatliche Steuerung und Subventionierung des Arbeitsmarktes im Sinne einer Anpassung des schulischen Betreuungsangebotes für berufstätige Eltern (vor allem Mütter) und letztlich um ein sowohl (neo)sozialistisches als auch (neo)liberales Projekt der normativen Pädagogik und Politik zur "Bildung der Gesellschaft".
Nicht umsonst hatten und haben ganztägige Schulformen in den verschiedensten politischen Systemen einen festen Platz (in sozialistischen wie der DDR ebenso wie in liberalen wie Frankreich und Großbritannien) beziehungsweise keinen Platz (wie einst in der BRD, wo laut einer aktuellen Studie die Systemkonkurrenz zur DDR deren Einführung im Lichte politstrategischer Überlegungen verhindert haben soll).
Angesichts dieser Situation darf die Frage gestellt werden, inwieweit bildungspolitisch gerahmte Zielsetzungen mit dem Anspruch auf Nachhaltigkeit durch strukturelle Rahmenbedingungen wie die Ganztagsschule erfüllt werden können. Zu den Herausforderungen moderner Bildungssysteme in der "überforderten Gesellschaft" (wie sie der Soziologe Armin Nassehi nennt) gehört es ja, mit Ansprüchen anderer gesellschaftlicher Bereiche umzugehen (wirtschaftliche Interessen, gerechte Chancen etc.), obwohl sich diese vom pädagogischen Selbstverständnis des Bildungssystems mit seinem Fokus auf individuelle Entwicklung und Entfaltung unterscheiden. In diesem Spannungsfeld ist die Politik gefordert, klare und kollektiv bindende Entscheidungen im Interesse der Gesellschaft zu treffen - und auch durchzusetzen.
Der Blick in die Vergangenheit zeigt leider, dass derartige Versuche häufig zu bildungspolitischen Blockaden geführt haben und die unterschiedlichen Positionen insbesondere bei strukturellen Projekten zwischen Zustimmung und Ablehnung immer wieder taktisch ausgetestet wurden. So lehnte Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) im Jahr 2003 die Ganztagsschule ab, weil sie die Autonomie der Schulen gefährden würde. Auf Seiten der Gewerkschaft war man mäßig begeistert, während die Wirtschaftskammer es begrüßt hätte und die Schulen zu verlässlichen Partnern für die Arbeitgeber machen wollte.
Bei all diesen Bemühungen stand die Idee der zentralen Steuerung des Bildungswesens im Vordergrund. Politik bildet aber heute nicht mehr ein Zentrum der Gesellschaft, von dem aus die zentrale Steuerung beziehungsweise die "Bildung der Gesellschaft" gelingen kann. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, auf administrativem Weg systemische Anreize zu schaffen, um die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Interessen zu balancieren.
Initiativen der Bildungspolitik wie aktuell die Einführung von Qualitätsmanagement in Schulen zur Stärkung der Autonomie der Schulstandorte hinsichtlich ihrer Entwicklungsplanung sind zwar zu befürworten. Der zweite Blick zeigt aber auch hier eine toxische Steuerungsphilosophie, die davon ausgeht, alle Details direktiv im Sinne einer ministeriellen Mechanik "von oben nach unten" steuern und kontrollieren zu können. Strukturell sehen wir darin die idealtypische Ausprägung einer behördlichen, bürokratischen Logik: Schulen sind nachgeordnete Stellen der Bildungsdirektionen auf Länderebene, diese sind nachgeordnete Dienststellen des Bundesministeriums. Landeshauptleute stehen präsidial den Bildungsdirektionen vor, die wiederum als "Verwaltung zwischen allen Stühlen" zu bezeichnen sind.
Vertrauen
Es braucht wenig Vorstellungsvermögen und nicht unbedingt vertiefte Kenntnis zeitgenössischer System- oder Steuerungstheorie, um zu erkennen, dass Bildungspolitik und -administration unter den aktuellen, globalisierten gesellschaftlichen Verhältnissen so kaum möglich sind. Vielmehr wird seit Jahrzehnten die Lösung vieler Probleme erfolgreich verhindert. Was es hingegen für zukunftsfähige Steuerung braucht, darin sind sich Bildungsforscherinnen und -forscher wenig überraschend weitgehend einig: mehr dezentrale Entscheidungsautonomie in Teilbereichen des Bildungssystems und mehr Freiheit an den Schulstandorten (weniger geht ohnehin kaum).
Insofern wären bildungspolitische Brenngläser wie die Frage einer verpflichtenden Ganztagsschule gute Ansatzpunkte für kritische Selbstreflexion: Hierzulande scheint man ja (auch) in bildungspolitischen Fragen klare Entscheidungen zu scheuen und Mittelwege im Sinne österreichischen Lösungen zu suchen. Einem bekannten Sprichwort nach kommt man nicht mit zwei Schritten über einen Abgrund; jedoch stellen Kompromisse in komplexen Systemen nicht grundsätzlich ein Problem dar: Zwischen der Scylla des Staates und der Charybdis des Marktes eröffnet sich ein Raum autonomer Entscheidungen.
Das ist gut so. Es ist nämlich kaum plausibel, dass ein einziges Schulmodell den unterschiedlichen Herausforderungen in Bildungsregionen und an Schulstandorten gerecht werden kann. Angesichts der bisherigen Praxis im Schatten einer hierarchischen Anordnungs- und Weisungskultur wird es freilich beträchtliche Anstrengungen erfordern, auf eine heterarchische Kultur gegenseitigen Vertrauens umzustellen.