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Eine immer engere Union - wirklich?

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Warum es an der Zeit wäre, das Ziel der Entwicklung der EU demokratisch neu zu legitimieren.


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Wenn in Frankreich im April Präsidentschaftswahlen stattfinden, wird der Kandidat Michel Barnier mit der Forderung antreten, seine Heimat müsse "die Souveränität in allen Migrationsfragen" zurückholen und sich dazu die entsprechenden Gesetze "nicht länger vom EU-Gerichtshof und von der Europäischen Menschenrechtskonvention diktieren lassen". So jedenfalls hat es Barnier angekündigt und er geht damit viel weiter als Polens Regierung, die ja nur für ihre Justiz den Vorrang polnischen Rechts vor EU-Recht beansprucht, dessen Primat sonst aber akzeptiert; der Franzose hingegen will heimholen, was heute unzweifelhaft zu den Kompetenzen des EuGH gehört.

Dementsprechend kühl war auch die Reaktion der EU-Kommissionspräsidentin: Barniers Forderung sei gegen "das Herzstück des Nachkriegseuropa" gerichtet. Noch mehr Wumms geht kaum in der Sprache des Planeten Brüssel, das ist nur noch einen Schritt von der Exkommunikation entfernt.

Bemerkenswert daran ist nicht nur, was gesagt wurde, sondern vor allem, von wem: Barnier hat sich als früherer Außenminister, langjähriger EU-Kommissar und schließlich erfolgreicher Brexit-Chefunterhändler der EU ein sehr hohes Maß an Reputation und Ansehen erarbeitet, weit über ideologische Grenzen hinaus. So jemandem kann man nicht einfach wie einem dahergelaufenen Polen, Ungarn oder anderen Europäer zweiter Klasse mit der Nazikeule eins überbraten und dann mit Taschengeldentzug drohen, bis der Missratene endlich mitten in der Nacht die "Europäischen Werte" aufsagen kann, ohne ins Stottern zu kommen. So jemanden muss man auch in Brüssel zähneknirschend wie einen Erwachsenen behandeln.

Umso mehr, als der Weg hin zur "immer engeren Union", wie es in den römischen Gründungsverträgen der nachmaligen EU so elegisch heißt, mittlerweile immer mehr Risse in der Fahrbahn aufweist, die das Erreichen des Zieles erschweren. Nicht nur die polnische und die ungarische Regierung rütteln daran. Auch die deutschen Verfassungsrichter in Karlsruhe haben (in Zusammenhang mit dem Euro) in der Vergangenheit einen "konstitutionellen Pluralismus" eingemahnt, statt einfach das Primat des Unionsrechtes zu akzeptieren.

Vielleicht ist das alles noch keine ausgewachsene "veritable demokratische Konterrevolution" gegen die real existierende EU, wie der Publizist und Historiker Karl-Peter Schwarz es jüngst nannte - aber ob die "immer engere Union" tatsächlich auch nur von der Mehrheit der EU-Bevölkerung gewünscht und angestrebt wird, darf zumindest bezweifelt werden. Denn "immer enger" bedeutet ja aus logisch zwingenden Gründen, dass die Befugnisse des Nationalstaates "immer kleiner" werden müssen, bis man sie eines Tages im Handwaschbecken hinunterspülen kann. Den Eindruck aber, davon jetzt nicht so wahnsinnig in Euphorie versetzt zu werden, erwecken nicht nur die Polen. Im Jahr 2027 wird der Vertrag von Rom 70 Jahre alt; bis dahin wäre es vielleicht keine üble Idee, in der ganzen EU demokratisch darüber abzustimmen, in welcher Form das heute noch gewollt ist - und in welcher vielleicht nicht.