Korsika kämpft seit Jahrhunderten für die Loslösung von Frankreich. Vergangene und jüngste Entwicklungen.
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Monsieur Érignac liebt klassische Musik. Keine Frage also, dass er sich Karten für das Konzert vom 6. Februar 1998 besorgt hat. Am Programm steht Beethovens "Eroica", gespielt vom Orchestre Lyrique de Region Avignon Provence. Es ist knapp vor 21 Uhr, als Claude Érignac in Ajaccio beim Théâtre Municipal Kalliste vorfährt. Er lässt seine Frau Dominique aussteigen und macht sich auf die Suche nach einem Parkplatz.
Am Cours Napoléon drängt er sich in eine Lücke zwischen zwei Wagen. Von dort aus biegt er zu Fuß in die Avenue Colonel Colonna d’Ornano ein, als ihm drei Männer entgegenkommen. Man hört drei Schüsse, Érignac stürzt zu Boden und ist sofort tot. Die Gendarmerie rast heran. Zu spät. Die Täter sind geflüchtet. Kurz darauf geht eine Eiltmeldung über die Agence-France-Presse: Claude Érignac, Präfekt des Départements Corse-du-Sud, wurde auf offener Straße ermordet. Die Tat erschüttert Frankreich und irritiert Europa. Sie ist der Höhepunkt der jüngeren Kämpfe um die Unabhängigkeit Korsikas.
Zwei Départements
Seit dem 15. Mai 1768, als Genua die widerständige Insel an König Ludwig XV. verschachert hat, wehrt man sich gegen die Direktiven aus Paris, mit mehr oder weniger großer Intensität. Und das bis in unsere Tage: In den vergangenen Wochen sind die Unruhen neuerlich blutig aufgebrandet und haben Korsika in die Schlagzeilen gebracht. Was nicht zuletzt auf jenen Abend zurückzuführen ist, als Claude Érignac bei einem Attentat getötet wurde.
Korsika ist in zwei Départements aufgeteilt: Haute-Corse und Corse-du-Sud, mit Präfekturen in Bastia und Ajaccio. Claude Érignac war zwischen 1996 und seinem Tod einer der beiden ranghöchsten französischen Beamten, die Paris auf der Insel stationiert hatte. Er gab sich volksnah. Man begegnete ihm mit Einkaufskörben, wenn er über den Markt schlenderte, und am Tennisplatz. Und er scheute sich dabei nicht, ohne Security unterwegs zu sein. Auch am Abend seiner Ermordung hatte er Begleitschutz und kugelsichere Weste abgelehnt.
Erignac war ein erfahrener Politiker: Nach dem Studium hatte er das renommierte Institut d’études politiques de Paris durchlaufen und danach in diversen Kabinetten und als sous-préfet und préfet gedient, ehe man ihn nach Ajaccio beorderte. Dort brauchte man einen Verwaltungsjuristen, der die Agenden unnachgiebig und doch klug verfolgte. So zumindest wollten es Jacques Chirac, der damalige Präsident, und sein Beraterstab. Claude Érignac war ein fairer Amtsträger, wie viele zugestehen. Ganz anders sahen das die Nationalisten, die sich in diversen Vereinigungen organisierten. Als préfet habe er in Ajaccio eine Herrschaft in kolonialer Tradition installiert, das Land mit strenger Hand regiert und die Forderungen jener ignoriert, die eine Unabhängigkeit Korsikas ansteuern, erklärten sie.
Chirac ordnete die schnellstmögliche Fahndung nach den Tätern an. Im Mai 1999 wurden schließlich mehrere ernstzunehmende Verdächtige inhaftiert. Unter ihnen Yvan Colonna, ein 39-jähriger Hirte und Ziegenzüchter. Doch ihm gelang die Flucht. Er tauchte unter und konnte dabei auf zahlreiche treue Helfer zählen.
"Terra corsa a i Corsi" (Korsika den Korsen), "Français de merde" (Scheiß Franzosen) oder "Français dehors" (Franzosen raus): Aufrufe wie diese bedecken Bahnübergänge oder Mauern. Wo auf Ortsschildern nur die französische Bezeichnung der Dörfer und Städte angezeigt wird, ist die Wut auf Paris noch deutlicher zu spüren. Schrotkugeln haben die Lettern durchsiebt, so sie nicht vorher schwarz übermalt worden sind: ein Spiegel jener politisch unruhigen Epoche, die mit Ende der 1960er Jahre begonnen hat.
Konflikt mit pieds-noirs
Damals rief eine ganze Reihe politischer Gruppierungen zum Kampf. Man wehrte sich gegen die Immobilienspekulanten vom Festland und radikalisierte sich in der Empörung darüber, dass Paris die korsischen Anliegen mit dem Wunsch nach größerer Freiheit schleppend bearbeitete. Zusätzlichen Konfliktstoff boten die Auseinandersetzungen mit den pieds-noirs, französischstämmigen Familien, die nach dem Verlust der nordafrikanischen Kolonien repatriiert worden waren. In Korsika hatte man mehr als siebzehntausend dieser Rückkehrer angesiedelt und ihnen den ehedem von der Malaria gebeutelten Küstenstreifen der Plaine Orientale zur Bewirtschaftung überlassen.
Die Neuankömmlinge, von Frankreich mit Starthilfe und Krediten unterstützt, legten die Sümpfe trocken. Bald schon florierte der Anbau von Obst und Wein, was den Argwohn und Neid der Korsen auf sich zog. Die Liegenschaften erfuhren mit der Kultivierung eine solche Wertsteigerung, dass sie für die Einheimischen unerschwinglich wurden.
Die Animositäten zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen eskalierten, als im Sommer 1975 bekannt wurde, dass die verhassten Fremden Weine gepanscht hatten: ein Akt, der gegen den traditionellen Ehrenkodex verstieß und die alteingesessenen Bauern erzürnte. Am 21. August 1975 okkupierten Edmond Simeoni und etwa dreißig mit Jagdgewehren bewaffnete Männer das Weingut Depeille in Aléria, um auf diese Weise gegen die Bevorzugung der pieds-noirs zu demonstrieren.
Paris suchte Stärke zu zeigen und entsandte fast tausend Soldaten, Sicherheitsleute und Helikopter. Als man das Gehöft stürmte, mündete die Aggression in einen mehrminütigen Schusswechsel. Zwei französische Polizisten wurden getötet und einer der Besetzer schwer verletzt. Aléria entwickelte sich zum Trauma. Die Spannungen mit Frankreich verschärften sich, die Separatisten bekamen mehr Zuspruch von der Bevölkerung. Die FLNC, die Korsische Nationale Befreiungsfront, wurde gegründet und verübte hunderte Anschläge. Korsika galt schließlich als Insel des Terrors.
Das Attentat auf Claude Érignac spaltete die Bevölkerung. Ein Gutteil der Korsen lehnte den gewaltsamen Widerstand ab. Nur wenige Tage nach der Ermordung des Präfekten versammelte man sich in Ajaccio, um gegen die blutige Tat zu protestieren. Zugleich aber wuchs das Misstrauen gegen die Justiz. Als im Juni 2003 in Paris der Prozess gegen Colonnas Mitangeklagte startete und die Causa Érignac öffentlich aufgerollt wurde, waren in Korsika Gerüchte im Umlauf. Der flüchtige Yvan Colonna solle unruhig geworden sein, hieß es.
Die Polizei vermutete ihn in der Abgeschiedenheit der Macchia und observierte über zweihundert Schäfereien. In einer Hütte oberhalb des Badeorts Porto Pollo hatte man seit einer Weile einen Verdächtigen im Visier. Am Abend des 4. Juli 2003 sprachen ihn die Gendarmen an. "Yvan Colonna?" - "Oui, c’est moi." Er wehret sich nicht gegen die Handschellen. Man brachte ihn nach Ajaccio und flog ihn sofort nach Paris.
Serie von Anschlägen
Die Festnahme Colonnas führte zu einem Eklat. Nicolas Sarkozy, damals Innenminister, verkündete vollmundig, man habe den Mörder Érignacs in Ketten gelegt, und erwähnte dabei mit keinem Wort, dass dies vorläufig nur eine Hypothese war. Die korsischen Nationalisten erlebten diese Aussage als bewussten Affront und reagierten mit Anschlägen auf vier Villen, die im Besitz von Festlandfranzosen standen. Sie verübten eine Serie weiterer, ähnlicher Ausschreitungen.
Nach langwierigen Ermittlungen - die beiden Komplizen waren bereits hinter Gittern - begann am 12. November 2007 der Prozess gegen Yvan Colonna, unter Einsatz erhöhter Schutzmaßnahmen: Man befürchtete Unruhen. Der Angeklagte wurde am 13. Dezember zu lebenslanger Haft verurteilt, zweiundzwanzig Jahre davon in Sicherheitsverwahrung. Colonnas Anwälte gingen in Berufung. Angesichts eines Verfahrensfehlers wurde der Schuldspruch am 30. Juni 2010 aufgehoben und am 8. Juli in einen einjährigen Arrest wegen des Besitzes und Transports der Tatwaffe verwandelt, was die Staatsanwaltschaft wiederum beeinspruchte.
Am 2. Mai 2011 kam es zu einem dritten Verfahren. Das ursprüngliche Urteil wurde bestätigt, diesmal allerdings ohne die gefürchtete Sicherheitsverwahrung: ein Indizienprozess ohne zwingende Beweise. Die Berufung wurde vom französischen Kassa-tionsgerichtshof abgelehnt. Doch die Causa war damit noch nicht ad acta gelegt. Ein Unterstützungskomitee prangerte den Justizirrtum an, dem der angeblich zu Unrecht inhaftierte Colonna zum Opfer gefallen sein soll. Sein Schicksal inspirierte Schriftsteller zu Romanen und einem Comic, gleich mehrere Filme beschäftigten sich mit dem Drama.
Zugeständnisse
In Korsika kehrte keine wirkliche Ruhe ein. Wobei die Bevölkerung inzwischen realistisch genug ist, um den Nutzen einer Unabhängigkeit kritisch zu hinterfragen. Die Insel gilt als eine der ärmsten Regionen Frankreichs. Dass man es ohne das Mutterland wirtschaftlich schaffen würde, bezweifeln viele. Also kämpft man für eine rechtlich verankerte Autonomie. "Wir sind Korsen, Franzosen, Europäer", so das politische Glaubensbekenntnis. Bei den Regionalwahlen vom Dezember 2017 errang das Bündnis von Gilles Simeoni, einem der Anwälte von Colonna, und Jean-Guy Talamoni die Mehrheit. Was das Selbstbewusstsein für Gespräche mit Paris stärkte.
Yvan Colonna, der in der Vollzugsanstalt von Arles unter besonderer Beobachtung stand, hielt indes an den Beteuerungen seiner Unschuld fest. Am 2. März 2022 wurde er von einem Mithäftling bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschlagen. In einem korsischen Gefängnis wäre ein derartiger Mordversuch nie passiert, so das Credo jener Inselbewohner, die auf die Straße gingen. In Gewaltexzessen attackierten sie die Einsatzkräfte, die den Zentralstaat und die verhassten "Gallier" repräsentieren, und legten im Justizpalast von Ajaccio Feuer.
Zwei Wochen dauerten die Ausschreitungen, ehe der französische Innenminister Gérald Darmanin am 15. März Zugeständnisse verkündete: Inhaftierte Separatisten sollen in ihre Heimat verlegt und das Korsische, ein toskanischer Dialekt mit Verwandtschaft zum Sardischen und Katalanischen, als Amtssprache eingeführt werden: Die Diskussion über den Weg zur Autonomie würde also neu in Gang geraten.
Ein Wahlversprechen und damit eine Form der Bestechung durch Emmanuel Macron? Korsika wird beharrlich auf die jüngsten Zusicherungen pochen. Und wenn es sein muss, wohl wieder mit Gewalt, wie zuletzt am vergangenen Sonntag. Dies auch in Erinnerung an Yvan Colonna, der am 21. März 2022 seinen schweren Verletzungen erlegen ist.
Susanne Schaber, 1961 in Innsbruck geboren, lebt als Literaturkritikerin, Herausgeberin und Autorin in Wien.