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Eine Karte und viele Fragen

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Die Vinland-Karte ist entweder eine kartografische Sensation oder eine sensationelle Fälschung.
© Bild: wikipedia

Versuchte ein Mönch, mit der Karte die NS-Ideologen zu beeinflussen?


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Nie wob sich eine spannendere Geschichte um eine Landkarte: "Hat ein Österreicher Amerika noch vor Kolumbus entdeckt?", fragt da eine Gratis-Zeitung und beruft sich auf Erkenntnisse Richard Raiswells. Und wenn der präkolumbianische Österreicher schon nicht dort war, so soll er, er sei übrigens ein Mönch gewesen, doch zumindest die erste Amerika-Karte gezeichnet haben. Raiswell sei patriotischer Dank!

Oder besser, doch genauer hinsehen?

Raiswell ist nicht irgendjemand. Der 1966 in England geborene Historiker lehrt an der University of Prince Edward Island und hat Verpflichtungen an der University of New Brunswick. Aber dann macht seine Vita gerade in Hinblick auf das Thema doch noch neugieriger: Er ist ein ausgewiesener Spezialist für Betrügereien seit dem Mittelalter bis in die Gegenwart. Und wenn so jemand etwas wie die legendenumwobene Vinland-Karte unter die Lupe nimmt, kommt in der Regel kein Echtheitsbeweis heraus, sondern eher eine tolle Geschichte um verdrehte Fakten und fälschende Mönche.

Die einzige Karte der Wikinger

Die Vinland-Karte also: eine Karte, die belegen würde, dass die Wikinger nicht nur vor Kolumbus in Amerika waren, sondern dass sie, darüber hinaus, über kartographische Fähigkeiten verfügten, die weit über die mittelalterlichen Kenntnisse hinausgingen. So ist Grönland auf der Karte als Insel in weitgehend richtiger Lage und Form eingezeichnet, woran selbst Karten des 16. und 17. Jahrhunderts noch scheiterten.

Das Pergament, auf dem die Karte gezeichnet ist, stammt zweifellos aus dem Mittelalter (laut Radiokarbon-Datierung aus dem Jahr 1434), die Tinte kann mittelalterlichen Ursprungs sein. So kommt René Larsen, Rektor der Konservatorenschule an der Royal Danish Academy of Fine Arts, zum Schluss: "Wir haben nach fünf Jahren intensiver Studien keine Hinweise dafür gefunden, dass die Vinland-Karte gefälscht ist." So denkt man ebenfalls an der Yale University, die seit 1959 im Besitz der Karte ist.

Gegen die Echtheit spricht freilich auch manches. So lässt sich die Karte nur bis ins Jahr 1957 zu einem Buchhändler aus Barcelona zurückverfolgen, der sie zusammengebunden mit einer spätmittelalterlichen Abschrift von Johannes de Plano Carpinis "Historia Tartaorum" ("Geschichte der Tataren") verkaufte. Zudem wäre sie die einzige Karte aus Wikinger-Hand.

Das Argument, die Wikinger hätten die Karte aufgrund der besonderen Bedeutung der Entdeckung angefertigt, verfängt nicht: Dass sie bei ihrem Hüpfen von Küste zu Küste tatsächlich bis nach Amerika gelangten, steht heute außer Frage - ebenso aber auch, dass sie dieser Tatsache wenig Bedeutung beimaßen. Selbst die "Vinland-Saga" ist nur ein kleiner, unspektakulärer Text, der sich von der üblichen nordischen Geschichtsschreibung nicht wesentlich unterscheidet. Weshalb hätten die Wikinger also gerade in diesem einen Fall, der für sie kein Sonderfall war, eine Karte anfertigen sollen?

Raiswell sieht freilich noch eine weitere Ungereimtheit: Die Karte bezieht sich auf eine Vinland-Fahrt der Wikinger im Jahr 1113 oder 1114. Da die Karte von frühestens 1434 stammt, müsste sie vom Original kopiert worden sein. Sollte es tatsächlich nur eine einzige Kopie gegeben haben, nämlich eben jene Vinland-Karte, die 1957 plötzlich auftaucht, so wäre das ein Fund, bei dem die Redewendung "zu schön, um wahr zu sein" gelten würde. Sollte die Karte aber, wie anzunehmen wäre, mehrfach kopiert worden sein, fehlen sämtliche Vorlagen. Auch in dieser Lücke der Überlieferung sieht Raiswell einen Hinweis auf eine neuzeitliche Fälschung, zumal er konstatiert: "Die Karte suggeriert, dass jemand am Werk war, der über die Kenntnisse des 20. Jahrhunderts verfügte."

Doch wer soll dafür in Frage kommen? - Eine Theorie dazu entwickelte Kirsten Seaver. Die 1934 geborene Dänin lebt seit 1952 in den USA, als Historikerin hat sie sich speziell mit den Wikingern befasst, sie hat auch als Kartographin und Übersetzerin gearbeitet. Sie ist es nun, die tatsächlich einen österreichischen Mönch ins Spiel bringt - allerdings keinen mittelalterlichen, sondern einen aus den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, wahrscheinlich war es, meint Seaver, ein Jesuit.

Seaver liest die Karte nicht primär als (vorgeblichen) Beweis dafür, dass die Wikinger in Amerika waren, sondern als (vorgeblichen) Beweis für eine christianisierte Welt.

Das religiöse Ideal der Nationalsozialisten war der heidnische germanische Glaube, während sie das Christentum für eine verweichlichte jüdische Religion hielten. In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, die Seaver als wahrscheinlichen Entstehungszeitpunkt der Karte annimmt, waren die Nationalsozialisten drauf und dran, Österreich in ihre Gewalt zu bringen. Nach Seavers Auffassung, der Raiswell weitgehend folgt, könnte der Mönch die Karte nun gezeichnet haben, um den Nationalsozialisten zu zeigen, dass die gesamte Welt seit dem Mittelalter christlich war. Sozusagen wäre die Karte christliche Propaganda gewesen, um die Nationalsozialisten in der Verfolgung der christlichen Religion umzustimmen.

Eine Fälschung für das "Ahnenerbe"?

Es gibt aber, geht man von der Grundvoraussetzung einer Fälschung mit Blick auf die Nationalsozialisten aus, eine weitere reizvolle Möglichkeit, die Fälschung zu begründen: Die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe, 1935 von Reichsführer-SS Heinrich Himmler, Reichsbauernführer und Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes Richard Walther Darré und dem niederländischen Privatgelehrten Herman Wirth als Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte gegründet, interessierte sich sehr für die Wikinger.

Der offiziellen Lehre zufolge brachten die "Nordmenschen" ursprünglich der ganzen Welt das Heil. Wenn nun eine Karte einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Weltkolonisierung durch die Wikinger und dem durch sie weltweit verbreiteten Christentum herstellt, dann könnten die Nationalsozialisten das Christentum in ihren Nordmenschen-Kult einbauen. Durch die Fakten wäre es sozusagen arisiert, und eine Religion, die von den Wikingern im Mittelalter über die ganze Welt verbreitet wurde, darf man gerade als Nachfahre der Wikinger wohl nicht verfolgen.

Dass gerade ein Angehöriger eines Ordens in der Ordensbibliothek relativ leicht an altes Pergament herankommen hätte können und auch traditionelle Tintenherstellungsverfahren kannte, sie vielleicht sogar noch anwendete, bedarf eigentlich keines gesonderten Hinweises.

Bleibt die Frage, weshalb die Nationalsozialisten die Karte nicht triumphierend vor sich hertrugen. Immerhin galt die heute nachgewiesene Entdeckung Amerikas durch die Wikinger zu jener Zeit unabhängigen Historikern zumeist noch als unhaltbare NS-Propaganda. Gelangte die Karte nicht in die Hände der Nationalsozialisten? Oder erkannten sie zwar den Beweis für die Amerika-Fahrt der Wikinger, aber auch die damit verbundene ideologische Sprengkraft der Legitimation des Christentums durch die Nordmänner und ließen die Karte verschwinden?

Womit die Vinland-Karte zwar als mittelalterliches Original ausgespielt haben dürfte, aber immer noch gut ist für eine sowieso viel spannendere Geschichte um Politik, Fälschung und mönchisches Schlawinertum.