Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Das ist nur ein Anfang - setzen wir den Kampf fort" war der am meisten skandierte Satz bei der Siegesfeier am vergangenen Sonntag vor der Bastille, dem Freiheitssymbol aus den Zeiten der französischen Revolution.
Tausende von AktivistInnen sozialer Netzwerke und politischer Organisationen, die sich sechs Monate lang um jede einzelne Stimme bemüht hatten, waren in Paris zusammengekommen, vor allem um hier den Sieg einer neuen Form der Demokratie zu feiern.
Denn im Unterschied zu Ländern wie Österreich, wo sich die politischen Parteien jedweden im Parlament vertretenen Couleurs großzügig über den Souverän, das Staatsvolk, hinweggesetzt hatten, hatte hier ein Diskussionsprozess stattgefunden, der mit vielen Vorurteilen aufgeräumt hat. Zum Beispiel mit jenem, dass die Bevölkerung zu dumm wäre, um den Verfassungsentwurf zu verstehen, oder dass sie ohnedies nur den populistischen Demagogen der Ewiggestrigen aus dem nationalistischen Lager nachlaufen würden.
In Wirklichkeit hat sowohl die Kampagne als auch das Resultat gezeigt, dass diejenigen, die das "Nein" befürwortet haben, den Verfassungstext viel besser gekannt hatten als die Befürworter, die sich vor allem auf die Europauntergangsszenarien der offiziellen politischen Parteien gestützt hatten.
Das Resultat mit seiner hohen Wahlbeteiligung zeigte aber auch, dass es vor allem die Globalisierungsverlierer aus den städtischen und ländlichen Randschichten waren, die mehrheitlich zur Wahl gingen, um dem Europa der Neoliberalen eine klare Abfuhr zu erteilen. Bis zu 80 Prozent hatten in den Pariser Vororten etwa für ein Nein gestimmt.
Dass der Kampf jetzt weitergeht, ist allen jenen klar, die als die Sieger aus dem Referendum hervorgegangen sind. Jetzt geht es darum, die Alternativkonzpte zu dem Verfassungsentwurf, die während der Kampagne in Frankreich diskutiert wurden, einer breiteren medialen Öffentlichkeit vorzustellen. Es geht dabei um das Grundeinkommen ebenso wie um die Residenzbürgerschaft, um Friedensstrategien ebenso wie um einen neuen Verfassungsprozess, der jetzt erst in Gang kommen soll.
So werden sich die AnhängerInnen des Neins in Befürworter eines demokratischen Prozesses verwandeln, der in den Wohnvierteln beginnen soll und um Konzepte und Formulierungen ringen wird - solange bis letztendlich eine verfassunggebende Versammlung gewählt werden kann, die im Unterschied zum abgelehnten Verfassungsentwurf auch die notwendige Legitimität besitzt, um Reformen in den nationalstaatlichen Verfassungen überhaupt durchführen zu können.
Den AktivistInnen in Frankreich ist es klar, dass ein solcher Prozess nur auf gesamteuropäischer Ebene stattfinden wird können, der auch jene Länder wie Österreich mit einbezieht, in denen die parlamentarischen VolksvertreterInnen ihre eigene Bevölkerung überfahren haben. Ein "Mouvement constituant Europeen", eine verfassunggebende, gesamteuropäische Bewegung soll ins Leben gerufen werden, die sich den in den letzten sechs Monaten in Frankreich stattgefundenen partizipativ-demokratischen Prozess zum Vorbild nehmen soll.
Ob nun diese Versammlungen im Anschluss an das große Vorbild aus der Französischen Revolution "Etats Generaux" (Generalstände) heißen oder einen anderen Namen tragen werden, wird noch in den vielen Treffen, die vor der Sommerpause stattfinden werden, abgestimmt werden.
Dr. Leo Gabriel, Sozialanthropologe und Publizist, ist einer der Promotoren im Welt-Sozialforum und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für zeitgenössische Lateinamerikaforschung.