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Eine Klasse unter der Tarnkappe

Von Andrej Iwanowski

Politik

Russlands Kapitalismus ist heur zehn Jahre alt geworden. Im August 1992 signierte Präsident Boris Jelzin ein Dekret, laut dem die gesamte Bevölkerung, einschließlich Säuglinge, Privatisierungsgutscheine im Nennwert von 10.000 Rubel als persönlichen Anteil am bisherigen sozialistischen Gemeingut bekommen sollten. Die formell als zivilisiert gedachte "Umverteilung des Gemeinguts" entfaltete sich allerdings zu einer langjährigen Kette von Betrügereien, Morden, Prozessen und Schwindelaffären.


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Die Privatisierungskampagne erwies sich als ein Bluff: einige wenige wurden auf einen Schlag steinreich, eine absolute Mehrheit fühlte sich jedoch als Verlierer. Das einzige Kapital, das die Russen damals erhielten, war die Freiheit. Im Wirtschaftsbereich wurde aber dieses Startkapital von Anfang an ungerecht verteilt: ein Betriebsdirektor war von Anfang an unvergleichbar "freier" als eine 70-jährige Babuschka.

Ein zusätzliches Problem mit der neuen Freiheit bestand darin, dass die Russen unter den Bedingungen der sozialistischen Gleichmacherei vom Stress befreit gewesen waren, nach Profiten zu jagen. Alle verdienten ungefähr gleich viel bzw. gleich wenig. Mehr noch: ideologisch galt das Streben, reich zu werden und komfortabel zu leben, als verwerflich und gesellschaftsfeindlich. Denn an erster Stelle stand das Wohl des Staates. Nicht zuletzt deshalb baute das Sowjetreich die weltbesten Raketen und Panzer, war jedoch nicht in der Lage, gescheihte Staubsauger oder Bügeleisen herzustellen.

Greift man noch weiter in Russlands Geschichte zurück, so stellt man - wohl nicht ohne Verwunderung - fest, dass es auch im Zarenreich keine mentale Basis für die klassenspezifischen bürgerlichen Werte wie Sparsamkeit, geschäftliche Geschicktheit oder Ordnungsliebe gab. Ganz einfach: weil in Russland feudale Sitten zu lange herrschten - das Leibeigentum wurde erst 1861 abgeschafft. Danach entwickelte sich zwar die Bourgeoisie bis zur bolschewistischen Revolution 1917 äußerst stürmisch, aber ohne dass es in der nationalen Psychologie und politischen Ideologie einen wesentlichen Niederschlag gefunden hätte. Vergeblich würde man bei einem Tolstoj, Tschechow oder Gorki nach einer positiven Figur eines "gewissenhaften, fleißigen und zielstrebigen Unternehmers" suchen.

Union der Arbeiter und Bauern

Formell hat es in der UdSSR schon eine Mittelschicht gegeben, zumindest gemäß den schon von Aristoteles formulierten drei Hauptmerkmalen: sie hatte ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu bestreiten, eine stabilisierende Funktion in der Gemeinschaft zu spielen und Extreme zu vermeiden sowie an der wirtschaftlichen Entwicklung des Staates interessiert zu sein. Zum sowjetischen Mittelstand gehörten Teile der sogenannten Intelligenzija (Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler etc.), des Staats- und Wirtschaftsapparates und der Offiziere. Aber nicht sie, sondern "die unverbrüchliche Union der Arbeiter und Bauern" galt als die soziale Stütze des Staates und der Gesellschaftsordnung.

Keine dieser Schichten besaß jedoch das, was bei einem Bürger der zivilen Gesellschaft als immanent verstanden wird: die Freiheit des wirtschaftlichen Verhaltens. Die erste massive Gruppe "individueller Unternehmer" wurde Anfang der 90er Jahre eben von zwei neuen Freiheiten - der Freiheit des Reisens und der des Devisenhandels - hervorgebracht. Zu Tausenden strömten damals frühere Straßenkehrer und Krankenschwestern, aber auch Diplomingenieure und -biologen nach China oder nach Polen, kauften dort - zunächst kilogramm-, später zentnerweise - Laufschuhe, T-Shirts, Spielzeug, Filzstifte und sonstiges Zeug auf und verhökerten dieses in der Heimat. Die pfiffigsten dieser "Tschelnoki" ("Pendelhändler") machten wenig später eigene Geschäfte auf. Ein anderer für die Mittelschicht ersprießlicher Sektor waren die Banken, die ebenfalls zahlreichst entstanden und sich vor allem an der galoppierenden Inflation bereicherten. Die wenigsten produzierten Zu Beginn etwas.

Die Stunde der Ernüchterung schlug Mitte August 1998, als sich Russlands Regierung praktisch für bankrott erklärte - zu viele Kredite waren aufgenommen worden, zu viele staatliche Wertpapiere emittiert, zu lange war der niedrige Rubelkurs zum Dollar künstlich unterstützt worden. "Hat es bis dahin in Russland zwei Gruppen gegeben - die einen haben durch die Reformen etwas gewonnen, die anderen verloren -, so waren nach der August-Krise alle Bürger Russlands k.o.", schrieb damals das Massenblatt "MK". Mit anderen Worten: Der Finanzkollaps hat bewiesen, dass nach 1992 bereits eine beträchtliche Schicht entstanden war, die als neuer Mittelstand angesehen werden konnte. Nun stand dieser aber am Rande des Abgrunds.

In der 10-Millionen-Stadt Moskau, der Zitadelle des neuen "Middle", war die Katastrophe besonders stark zu spüren. Investmentgesellschaften, Werbeagenturen und Handelsfirmen warfen ihre Angestellten en masse auf die Straße. Vor den pleite gegangenen Banken, die das Geld nicht herausrücken wollten, bildeten sich kilometerlange Schlangen. Das fast vergessene Gespenst des "reifen Sozialismus" mit dessen Warendefizit und Lebensmittelrationierung zeigte sich wieder am Horizont.

Eben diese Finanzkrise erwies sich jedoch für Russlands Mittelstand als eine Impfung gegen falsche Illusionen und ein Ansporn zum Überleben. Nicht aber die Regierung und das Parlament, die zwar stets die Wichtigkeit der Entstehung des Mittelstands als der wichtigsten sozialen Stütze für das neue Russland betonten, für dessen Förderung jedoch kaum etwas taten, sondern die Mittelschichtler selbst halfen sich dabei aus der Patsche. Durch die Abwertung des Rubels auf ein Drittel dessen früheren Wertes wurden die Importgeschäfte für lange Zeit unrentabel. Zugleich wurde die einheimische Produktion angespornt, die die Importwaren in vielen Bereichen zu verdrängen vermochte. Entsprechend seinem gesunkenen Einkommen reduzierte "Iwan der Normalverbraucher" seine Ansprüche und begnügte sich mit einheimischen Hemden, Tapeten oder Autos.

Mittelschicht hilft sich selbst

In den letzten drei Jahren wuchs Russlands BIP um beachtliche 20 Prozent. Natürlich spielten dabei die gestiegenen Ölpreise auf dem Weltmarkt für Moskau als einen der größten Ölexporteure eine beträchtliche Rolle, noch wesentlicher war aber die nach der Wahl Wladimir Putins zum Landespräsidenten eingetretene politische Stabilität, die das Land in der Jelzin-Epoche kaum gekannt hatte. Immer noch zögerlich, dennoch kontinuierlich vertrauten ausländische Investoren ihr Geld dem weiterhin riskanten, dafür überaus zukunftsreichen russischen Markt. Dadurch entstanden ebenfalls immer neue Arbeitsplätze für die aufkommende russische Mittelschicht.

Mit der Definition des Begriffs Mittelstand hat Russland allerdings immer noch Probleme. "Es wäre zu primitiv und zu unexakt, Menschen nur nach Besitz und Einkommen dem Mittelstand zuzurechnen", meint die Soziologin Tatjana Malewa aus der Moskauer Vertretung der Carnegie-Stiftung, die sich bereits seit Jahren mit diesem Problem befasst. "Wichtig sind das Bildungsniveau und die Selbstidentifizierung als Vertreter der Mittelschicht." Uni-Professoren und Volksschullehrer etwa, die im Westen eindeutig der Mittelklasse zugerechnet würden, könnten in Russland einkommensmäßig kaum als Repräsentanten dieser Klasse gelten. Zugleich würden nur die wenigsten von ihnen für eine Rückkehr früherer Zeiten stimmen.

Nur zehn Prozent der Russen hätten nach Malewas Schätzungen qualifikations- und altersmäßig, aber auch wegen ihrer sozialen Selbstidentifikation und ihren Lebensansprüchen keine Chance, von der untersten Stufe der sozialen Leiter zur Mittelschicht aufzusteigen. Weitere 40 Prozent, vor allem Studenten und junge Fachleute, bilden die "Proto-Mittelklasse", d.h. eine Gruppe, die gute Voraussetzungen hat, sich zur Mittelschicht zu gesellen. Die restlichen 50 Prozent weisen das eine oder andere Merkmal der Zugehörigkeit auf.

Nikolai Brusnikin, Vizechef des Finanzausschusses der russischen Staatsduma, schätzt Russlands Mittelstand auf 20 Prozent der Bevölkerung. "Vorerst hat er noch nicht die 'kritische Masse' erreicht, die ihm die Möglichkeit geben würde, diese oder andere Prozesse im Staat zu beeinflussen."

Eine andere Eigenschaft des russischen Mittelschichtlers: er ist schüchtern und präsentiert sich nur ungern der Öffentlichkeit. "Viele haben einfach Angst, sich als Vertreter der Mittelklasse zu bezeichnen, weil sie meinen, dass der Wohlstand im armen Russland immer noch ein Umstand ist, den man lieber nicht demonstrieren sollte", schrieb jüngst die "Iswestija". Immerhin leben etwa 30 Prozent der Russen laut der offiziellen Statistik unter dem Existenzminimum.

Ein weiterer Grund für diese "Schüchternheit" dürfte darin bestehen, dass viele Unternehmer unteren und mittleren Ranges ihren relativen Wohlstand der Steuerhinterziehung verdanken: die Steuerbürde und der Druck der korrupten Behörden hätten sonst ihre Geschäfte im Keime erstickt. Ein klassisches Beispiel: heute kommt die Polizei in den neu eröffneten Laden und gibt die Anweisung, die Fenster wegen Einbruchsgefahr zu vergittern, morgen kommt die Feuerwehr und befiehlt, die Gitter abzumontieren. Das schier unlösbare Problem lässt sich nur mit Bestechung regeln.

Nicht nur Steuerfahndern und Soziologen, sondern auch der staatlichen Statistikbehörde gibt die scheue Mittelklasse Rätsel auf. Einerseits soll das Pro-Kopf-Einkommen der "mittleren Mittelschicht" laut Expertenschätzungen zwischen 300 und 600 Euro pro Monat betragen, andererseits stellte das Moskauer Statistikamt fest, dass die Durchschnittseinkünfte eines Moskauers im ersten Halbjahr 2002 bereits bei umgerechnet 400 Euro lagen. Sollten beide Zahlen stimmen, ist Russlands Metropole landesbezogen eine absolute Mittelschicht-Stadt. Oder wird die Objektivität dieses Bildes dadurch verzerrt, dass die meisten Euro- bzw. Dollar-Millionäre - immerhin schätzungsweise zwei Prozent der Landesbevölkerung - in Moskau angesiedelt sind?

"Der Mittelschichtler unterscheidet sich von einem Durchschnittsrussen vor allem durch die Struktur des Konsums", stellt das Wochenblatt "Argumenty i Fakty" fest. "Für die Ernäherung gibt der Mittelstand 25 bis 30 Prozent seines Einkommens aus, der Durchschnittsbürger mindestens die Hälfte." Dementsprechend größer sind beim russischen Mittelstand die Ausgabenposten Bildung, Gesundheit, Reisen und Unterhaltung. Ein Auto - ein ziemlich obligatorisches Untensil im Haushalt dieser Klasse - besitzen heute im Landesdurchschnitt 31 Prozent der russischen Familien.

Russische Milliardäre

Auf der vom US-Magazin "Forbes" geführten internationalen Liste der Dollar-Milliardäre standen heuer sieben Russen. Diese verstecken sich nicht: Mitte August haben manche von ihnen und deren gut betuchtes Gefolge, wie Russlands Zeitungen berichteten, mit ausgiebigen Parties, Feuerwerken und ihren Bentlys und Porsches die Cote d'Azur unsicher gemacht. Mit der ängstlichen Mittelschicht haben aber diese "Oligarchen", wie sie im eigenen Land bezeichnet werden, nach Ansicht der Mittelstand-Expertin Malewa nichts zu tun. "Aus der Mittelklasse führt kein Weg in die Elite", meint sie. "Man kann nicht zunächst ein Low-Middle, dann ein Middle-Middle, danach ein Up-Middle und anschließend ein Oligarch werden."

Die Mittelschichtler, die sich meist nur zwei Wochen Spanien im Jahr und bestenfalls einen Skoda Fabia leisten können, haben andere Sorgen. Jeder zweite Russe befürchtet laut der jüngsten Umfrage eine Wiederholung der Finanzkrise vom August 1998 noch in den nächsten 12 Monaten. Denn "so gut wie jetzt kann es in Russland nicht lange gehen".