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Gunnar Decker hat eine bemerkenswerte Biographie über Hermann Hesse geschrieben, in welcher das Werk des Dichters auch mit dessen umfangreicher Korrespondenz verbunden wird.
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Innerlich war er ein arg Zerrissener, und er machte kein Hehl, sondern Literatur daraus. Äußerlich gingen zeitlebens die Meinungen über ihn extrem auseinander. Und weil er ein sehr erfolgreicher Schriftsteller war und postum noch ist, polarisiert Hermann Hesse auch nach seinem Tode. Im Nachruf der "Zeit" (am 17. 8. 1962) hieß es etwa: "Mit Hesse, sagen wir’s deutlich, ist heute kein Blumentopf mehr zu gewinnen." Für die Tonangebenden in der literarischen Welt war er damals ein "Opportunist, altmodischer Kauz, naiver Naturschwärmer", ein "Kitschdichter knapp oberhalb von Courts-Mahler". Ein paar Jahre später erschien dann eine Auswahl aus dem Briefwechsel mit Thomas Mann. Und man fragte irritiert: "Sprechen da nicht zwei auf gleichem Niveau miteinander?"

Gunnar Decker, der über Hermann Hesse nun eine höchst empfehlenswerte Biographie geschrieben hat, lässt keinen Zweifel daran, dass diese Frage für ihn berechtigt ist. Und diese hohe Wertschätzung wiegt deshalb schwer, weil sie von einem Autor stammt, der weder mit eigener noch fremder Kritik an Hesse spart. Vor allem aber beruht Deckers Urteil auf einer bis ins Detail profunden Recherche, deren Umfang - 700 konzentriert geschriebene Seiten - ebenso beeindruckt wie der Stil des Biographen.
Zwei Kontinuitäten
Hesse eckt an, zeitlebens - und zeitlebens wird ihm das zum literarischen Stoff. Das sind zwei der Kontinuitäten, die Decker im Leben und Werk des Dichters sichtbar macht. Schon als Schüler rebelliert er, bricht das Elitegymnasium ab und die erste Lehre. Seine pietistischen Eltern stecken ihn in eine Besserungsanstalt, und ihm droht noch Schlimmeres: das Irrenhaus! Hesse steht - mit der Pistole in der Hand - erstmals am Rande des Abgrunds.
Seine Erfahrungen mit deformierenden Bildungsinstitutionen verarbeitet er, 1906, als knapp Dreißigjähriger, in "Unterm Rad". Da ist er bereits mit dem "Peter Camenzind" hervorgetreten, als Schriftsteller erfolgreich - und seit zwei Jahren in einer Ehe gefangen. Einer Ehe, deren Enge er schon bald nicht mehr erträgt - und die ihn zu einem Buch über einen Künstler inspiriert, der sich zwischen seiner Familie und seiner Kunst entscheiden muss: "Roßhalde" erscheint 1914 - und ist ein intimer, vorgreifender Bericht des Scheiterns der eigenen Ehe.
Anderthalb Jahrzehnte hält er es an der Seite von Maria Bernoulli aus, am Bodensee und in Bern. Dann flüchtet er in den Süden, lässt seine Frau und seine drei Söhne zurück. Am Ende seines ersten, rauschhaften Single-Sommers in Montagnola will Hesse, von Depressionen geplagt, seinem Leben ein Ende setzen. Wieder einmal.
Dass er zu all seinen Ehefrauen - es werden insgesamt drei - große Distanz halten wird und ihm der Gedanke an den Freitod stets nahe bleibt, sind zwei weitere Kontinuitäten in Hesses Leben. Und es gibt noch viele andere: Der Natur - und auch dem Wein - bleibt er lebenslang zugetan, Großstädte verabscheut und meidet er, und der Technisierung und dem Nationalismus stellt er sich, sooft es geht, vehement entgegen. Zuerst mit Worten, etwa in der Zeitschrift "vivos voco", und dann, als in Deutschland die Bücher brennen, mit Taten. Zwar weiß Hesse, schon bevor die Nationalsozialisten an die Macht kommen, dass Hitler ein "Rindvieh" ist. Diesen Befund behält er allerdings der privaten Korrespondenz vor. Mit Hitlers Hörnern sucht er keinen hautnahen Kontakt.
Die Hassbriefe deutscher Verbindungsstudenten, die er erhielt, als er während des Ersten Weltkriegs wagte, die deutschen Intellektuellen zur Mäßigung zu mahnen, sind ihm Warnung genug. Hesse leistet leisen Widerstand: Er öffnet sein Domizil in Montagnola deutschen Exilanten, von denen nach 1933 auch bald die ersten kommen. Statt sich politisch zu exponieren, schreibt Hesse in der Zeit der Nazidiktatur im Tessin sein Alters- und Meisterwerk, das "Glasperlenspiel" - es darf in Deutschland erst erscheinen, nachdem das "tausendjährige Reich" untergegangen ist.
Nach dem Krieg fragen viele, warum Hesse zu Hitler geschwiegen hat. Thomas Mann, vor seiner Emigration in die USA selbst Exilant bei den Eidgenossen, weiß es: Es wäre kaum möglich gewesen, von der Schweiz aus unbehelligt Kritik an Deutschland zu üben.
Im Übrigen würdigt Mann, was Hesse mit dem "Glasperlenspiel" geleistet hat - es gehört für ihn "zu dem wenigen Wagemutigen und eigensinnig-groß Konzipierten, was unsere verprügelte, verhagelte Zeit zu bieten hat". Er schlägt Hesse für den Nobelpreis vor, den der 1946 - im selben Jahr wie den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt - auch erhält.
Emsiger Briefschreiber
Gunnar Decker belässt es nicht beim rein Biographischein, er wagt auch das Abenteuer der Interpretation und verwebt, damit diese überzeugt, das umfangreiche schriftstellerische Werk Hesses mit dessen noch umfangreicherer Korrespondenz, die aus 44.000 Briefen besteht. "Viel Wichtiges in Hesses Werk ist gar nicht in seinem künstlerischen Werk erhalten", sondern wird erst in "seiner Korrespondenz sichtbar", meint Decker.
Welche Ziele diese Korrespondenz verfolgte, dafür sind folgende Worte Hesses Indiz: "Die Menschheit verbessern zu wollen, bleibt immer hoffnungslos. Darum habe ich meinen Glauben stets auf den Einzelnen gebaut, denn der Einzelne ist erziehbar und verbesserungsfähig, und nach meinem Glauben war und ist es stets die kleine Elite von gutgewillten, opferfähigen und tapferen Menschen gewesen, die das Gute und Schöne in der Welt bewahrt hat."
Wer diese Elite ist und wie sie leben soll - diese großen, zeitlosen Fragen haben Hesse vor allem im "Demian", in seiner Monographie über Franz von Assisi und schließlich im "Glasperlenspiel" beschäftigt. Gunnar Decker zeigt, wie radikal Hesses Antworten in diesen Werken dem herrschenden Verständnis von Zivilisation widersprechen und macht verständlich, warum bis heute für viele Leser die Entdeckung der Literatur mit Hermann Hesse beginnt.
Gunnar Decker: Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie. Carl Hanser Verlag, München 2012, 703 Seiten, 26,80 Euro.