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Eine klimaschonende Seidenstraße für Europa

Von Mario Holzner

Gastkommentare
Mario Holzner ist Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und unterrichtet an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Wien. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von der Central European University (CEU) hat er kürzlich eine Studie zu den Umwelteffekten einer Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke entlang einer "Europäischen Seidenstraße" publiziert.
© wiiw

Wie die Bahn die Integration des Kontinents vorantreiben könnte.


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"Der einzige wahre Realist ist der Visionär", konstatierte einst der legendäre italienische Filmregisseur Federico Fellini. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche hat eine Vision entwickelt, deren Realisierung Europa nachhaltig verändern könnte. Stellen Sie sich vor, Sie genießen den Abend im französischen Lyon und schlendern schon am nächsten Vormittag durch Moskau - und müssen dazu bloß einen Schnellzug besteigen, der Sie über Nacht dorthin bringt, ganz ohne nervenaufreibende Transfers am Flughafen.

So utopisch diese Idee klingt, so notwendig wäre ihre Umsetzung. Bis 2050 will die EU klimaneutral werden. Dafür muss auch der vom Flugverkehr verursachte CO2-Ausstoß substanziell sinken. Kurzstreckenflüge auf Distanzen bis 1.000 Kilometer schaden dem Klima besonders und sollten der Vergangenheit angehören. Ein europäisches Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetz, das den Kontinent von West nach Ost verbindet, könnte Abhilfe schaffen, vor allem auf Kurz- und Mittelstrecken. Auf der von uns vorgeschlagenen Kerntrasse zwischen Lyon und Moskau sollte die Bahn speziell auf hochfrequentierten Routen wie zwischen Paris und Berlin das Flugzeug weitgehend ersetzen.

Mit dieser nachhaltigen "Europäischen Seidenstraße" könnte der CO2-Ausstoß über eine Dauer von 60 Jahren um etwa so viel reduziert werden, wie die Niederlande oder Polen in einem Jahr emittieren. Das wäre bereits ein wichtiger Beitrag, und würde zudem noch der Güterverkehr berücksichtigt, fiele die CO2-Reduktion doppelt so hoch aus. Die Baukosten dieser Kernstrecke von Lyon über Paris, Brüssel, Berlin und Warschau bis nach Moskau stellten mit 200 Milliarden Euro aufgeteilt auf zehn Jahre Bauzeit bei negativen Realzinsen zwar eine beträchtliche, aber gute und leistbare Investition dar. Zum Teil könnten sie auch über den Corona-Wiederaufbaufonds der EU ("NextGenerationEU") finanziert werden.

Neben dem Umweltaspekt eines solchen Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes - vulgo "Europäische Seidenstraße" - wäre seine ökonomische, politische und menschenverbindende Dimension von großer Bedeutung. Ein Voll-
ausbau im Umfang von 11.000 Kilometern auf zwei Routen - von Lissabon über Lyon und Moskau bis nach Uralsk an der russisch-kasachischen Grenze sowie von Mailand über Wien und Bukarest bis nach Wolgograd und Baku in Aserbaidschan - würde auch Wachstum und Beschäftigung in allen beteiligten Staaten erhöhen. Allein Österreich dürfte über eine zehnjährige Bauzeit kumuliert mit einem zusätzlichen BIP-Wachstum von 1,5 Prozent und 34.000 neuen Jobs rechnen.

Vor allem aber sollte ein solches Infrastrukturprojekt mithelfen, die Spannungen mit einem zusehends militarisierten Russland zumindest auf technischer Ebene zu verringern und eine weitere Teilung des Kontinents abzuwenden. Die physische Anbindung an Westeuropa über eine Schnellbahnverbindung könnte durch den verstärkten wirtschaftlichen und kulturellen Austausch auf einer persönlichen Ebene mehr Vertrauen bringen. Vertrauen, das wir in Anbetracht der neuen Kriegsgefahr in Europa dringend nötig hätten. Denn, um auch mit Fellini zu schließen: "Der Krieg langweilt mich sogar im Kino."