Zum Hauptinhalt springen

Eine lange Nacht mit dem "Monster von Toulouse"

Von Gerald Jatzek

Kommentare

Als Online-Journalist zwischen Wettbewerb und Analyse.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Warten auf das Ende in Toulouse, das bedeutet eine lange Nacht für den Online-Redakteur. Die Nachrichtenwelle schwappt aus digitalen Kanälen und Strömen. Das meiste ist Rauschen. Fast scheint es, dass jeder auf der Welt weiß, was in Toulouse los ist. Und wer nichts weiß, hat zumindest eine Meinung kundzutun. Der Journalist wird zum Perlentaucher nach Bits mit Informationen.

Die Nachrichtenagenturen sind am Printjournalismus orientiert und bringen Zusammenfassungen mit langen Pausen dazwischen. Dem Medium angepasst ist hingegen der unaufgeregte Live-Ticker von "Le Monde". Beim französischen Sender BFMTV läuft eine durchgehende Sondersendung als Webstream. Mit viel Sensationsgehampel, regelmäßig wiederholten biografischen Skizzen, aber auch tiefgehenden Interviews. Der Livestream des schwedischen "Aftonbladet" ist das exakte Gegenteil: Zwei Männer mit leuchtend gelben Schutzwesten stehen sich die Füße in den Bauch, stundenlang. Ab und an gibt es dazu einen kargen Offline-Kommentar. Spiegelt das die Krimiästhetik wider, die Unterschiede zwischen Kommissar Wallander und dem aufgeräumten Florentiner Casini?

Twitter ist naturgemäß schnell, aber ebenso das Forum der Aufgeregten wie der nervtötenden Spaßvögel und der Zyniker. Auf TwitPic steht immerhin das erste Bild des dringend verdächtigen Mohamed Merah, ein Kader aus einem Amateurvideo, das einen grinsenden jungen Mann zeigt. Kollege Kronspieß spricht aus, was es vermittelt: diese erschreckende, vordergründige Normalität, die man von der zweiten Reihe der Nazis kennt.

In den ernsthafteren Medien oszillieren die Theorien der französischen Experten zwischen Einzeltat und organisiertem Attentat. Während ich die Diskussion zusammenfasse, werden Explosionen gemeldet.

Der "Spiegel" leuchtet wie erwartet Hintergründe aus, berichtet über den längst begonnenen Exodus französischer Juden und über die unheilige Allianz von Trauer und Wahlkampf. Deren Archiv müsste man haben...

"Le Telegramme" interviewt eine Zeugin, die schon 2010 Anzeigen gegen Merah erstattet hat. Er soll einem 15-Jährigen Videos von Hinrichtungen vorgespielt haben. Ich übersetze eine Zusammenfassung. Die erste im deutschsprachigen Raum. Und schon befinden wir uns im Wettbewerb "Wer weiß mehr über den Mörder".

Gegen zwei Uhr morgens schafft der Server von BFMTV den Andrang nicht mehr und kappt immer wieder die Verbindung. Auf Twitter fordert eine junge Dame den Strick für Merah. Eine andere gibt den Rat, schlafen zu gehen. Sie nennt den Belagerten vertraulich "Momo". Die Verniedlichung des Schreckens? Bei uns kennt der Boulevard eine des Doppelmordes Beschuldigte namens "Esti". Um drei dauert die Belagerung bereits 24 Stunden. Schlafforscher erklären, dass man zu diesem Zeitpunkt weniger als ein Prozent der Spitzenleistung bringt. Im Vorleben Merahs gibt es keinen Hinweis auf Drogen. Was hält ihn wach? Ich vermehre am Getränkeautomaten das Vermögen des Herrn Mateschitz.

Warum tut man das? Es geht natürlich um die Aktualität, die heute in Sekunden gemessen wird. Anno 1776 berichtete die "Wiener Zeitung" als erstes österreichisches Blatt von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung - rund einen Monat danach.

Heute hat "Österreich" die Nachricht vor dem Ereignis: "Polizei stürmte Versteck des Serienkillers". Harald Fidler postet den Aufmacher um 6:16 als Twitpic.

Fünf Stunden später ist es tatsächlich soweit. Danach liest man rundum, dass das "Monster von Toulouse" tot sei. Erleichterung klingt durch, so, als ob das Böse damit aus der Welt und alles wieder normal sei.