Der Naturforscher, Autor und originelle Denker inspiriert auch unsere Zeit: eine Würdigung zum 280. Geburtstag.
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Nietzsche zählte seine Schriften zu jener deutschen Prosa, die man immer wieder lesen könne. Kant studierte ihn aufmerksam. Goethe suchte seinen Farben-Rat. Für Schopenhauer war er der Meister der Selbstdenker. Hebbel, Jean Paul, Kierkegaard, Sigmund Freud, Alexander von Humboldt und viele andere zählten zu seinen Bewunderern. Zeitgenossen ebenso wie Nachgeborene, Dichter und Denker, Natur- und Geisteswissenschafter: Bis ins 21. Jahrhundert reicht die Schar seiner Leser, die sich auf seine "Sudelbücher" und seine Abhandlungen berufen, und in fast regelmäßigen Abständen erscheinen kleine Sammlungen aus seinen Schriften oder Analysen zu seinem Werk.
Die Aktualität von Georg Christoph Lichtenberg beweist sich nicht nur in der Originalität der Sprachverwendung; sie ist auch durch seine vorbildliche Haltung zu wissenschaftlicher Tätigkeit ersichtlich, die er als Mathematiker und Experimentalphysiker, als Astronom, Philosoph und als vortragender Professor praktiziert hat. Er ist ein Vorbild in Zeiten angeblicher Wissenschaftsskepsis, wie sie heute existieren soll. Es ist kein Zufall, dass sich viele Gelehrte - seinerzeit zum Beispiel mehrere Mitglieder des "Wiener Kreises" - auf seine Wissenschaftsauffassung beriefen und seine Überlegung, "unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs", explizit oder implizit zu ihrem Motto machten.
Damit wird er auch zu einer Art Vorläufer einer sprachkritischen Tradition, die im großösterreichischen Raum zahlreiche Blüten trieb (Fritz Mauthner, Ludwig Wittgenstein, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal). Ob dies auch Früchte getragen hat, ist eine andere Frage. Sie beantwortet sich durch einen Blick auf die in vielen österreichischen Medien erkennbare Sprachverwendung.
Umfassend lernsüchtig
Lichtenberg war ein "interrogativer" Wissenschafter. Viele seiner Überlegungen enden mit einem Fragezeichen. In der Physiognomik seines Stils dient der Konjunktiv als grammatikalische Signatur. Das Gespinst der Möglichkeitsform überzieht sein Sprechen über das Ausgesagte und ist gleichzeitig sein Modus für kreative Hypothesen: "Soweit wir mit unseren Tubis reichen können, sehen wir Sonnen, um die sich wahrscheinlich Planeten drehen; dass in unserer Erde so etwas vorgeht, davon überzeugt uns die Magnetnadel. Wie, wenn sich dieser noch weiter erstreckte, wenn sich in dem kleinsten Sandkörnchen ebenso Stäubchen um Stäubchen drehten, die uns so zu ruhen scheinen wie Fixsterne."
Er war ein Grenzgänger: "Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht", formulierte er und lebte das wissenschaftliche Prinzip der Neugier beispielhaft vor. Bei der Lektüre kam ihm umfassende Sprachkenntnis (Englisch, Französisch, Italienisch, Griechisch, Latein), bei der Naturbeobachtung sein selbstfinanzierter Hang zur Technik zugute. Blitzableiter, Heißluftballons, Elektrophore, Drachen - vieles baute er selbst zusammen und probierte es vor staunenden Augen aus. Er war lernsüchtig. "In allen Wissenschaften gibt es durchgängig brauchbare und recht roulierende Wahrheiten, die die Presse noch nicht kennt."
Vor früher Spezialisierung glaubte er warnen zu müssen: "Sie (die früh angefangenen Wissenschaften) verwachsen sozusagen unserem Verstand und der Weg zu Neuem wird gehemmt." Universaldilettantismus schien ihm weniger gefährlich oder bedenklich als Fachmenschen ohne Geist, als Genussmenschen ohne Herz, wie Max Weber das später genannt hat.
"Herz" oder Gefühl wird Lichtenberg mit zunehmendem Alter wesentlicher als die reine Vernunft. Das bloße Anhäufen von Fachwissen wird ihm suspekt: "Mancher quält sich seine Lebenszeit, studiert sich frigid und impotent über der Entwicklung der Meinung eines Schriftstellers ... Aber es erforderte nur viertelstündiges helles Wachen gesunder Vernunft, einzusehen, dass die ganze Historie keine drei Groschen wert war." - "Das viele Lesen hat uns eine gelehrte Barbarei zugezogen."
Lichtenbergs Vorlesungen waren überfüllt. Er trug, so wird berichtet, mit Witz und klarer Sprache vor. Seinen Buckel suchte er dabei zu verstecken. Das Leben eines Gelehrten bestehe, so verstand er es, nur sehr eingeschränkt aus seinen Schriften. In seiner Lebensbeschreibung möge man zum Beispiel im Index das für ihn so wichtige Wort "Bouteille" suchen.
Die soziale Verantwortung der Gelehrten empfand er stark und ebenso diesbezügliche Defizite: "Wenn man die meisten Gelehrten ansieht, nichts verrichten sie an sich als dass sie sich die Nägel und Federn schneiden, ihre Haare lassen sie sich durch andere in Ordnung bringen, ihre Kleidung durch andere machen, ihre Speise durch andere bereiten, dafür, dass sie das Wetter in ihrem Kopf beobachten ... wenn unsere Gelehrten so fortarbeiten, so werden sie sich immer mehr von der gemeinen Menschenklasse entfernen, und der Eifer, jene nach sich zu ziehen, wird immer größer, aber auch die Verachtung größer werden, womit man jene Menschen ansieht."
Visionäre Skepsis
Er trat für Rechenschaftsberichte der Wissenschaft ein: "Es müsste am Ende des Jahres - ... pünktlich und gründlich gezeigt werden, was die Wissenschaft gewonnen hat." Er verfasste regelmäßig seinen Almanach voll mit populärwissenschaftlichen Vorschlägen und Phantasien. Heute träte er wohl (Körpergröße 1,43 Meter) in Talk-Shows auf.
Er liebte den analytischen Blick aufs Alltägliche: "Man sollte öfter dasjenige untersuchen, was von den Menschen meist vergessen wird." Er achtete auf das Ergebnis und nicht auf die Mühe, die es kostet: "Das Möserische Mehl und nicht die Mühle ist vortrefflich."
In dieser Haltung dient er als Warner, die Anstrengung, die in einer Forschung steckt, nicht mit ihrem Wert gleichzusetzen. Manch einer hielt ja die kritische Theorie oder Hegel oder Kant oder Marx & Co schon deshalb für wahr, weil es ihn viel Mühe gekostet hat, ihre Sätze zu verstehen und sich die Begriffswelt anzuverwandeln. Lichtenberg hält es hingegen für möglich, dass "ein Gelehrter weint, dass er seine eigenen Schriften nicht versteht; ein drolliger Gedanke".
Er liebt das Gedankenexperiment: "Hin denken, wo es keine Gedanken mehr gibt ... was würde aus unserem Verstand werden, wenn alle Gegenstände das wirklich wären, wofür wir sie halten?" Und er hielt nichts für so hinderlich für den Fortgang der Wissenschaft, "als wenn man zu wissen glaubt, was man doch nicht weiß".
"Amintores Morgenandacht" - einen seiner schönsten Texte - hat er nach der Überwindung einer schweren Krankheit geschrieben. Es ist der Dank eines Gesundeten an die Gottheit und drückt ein mächtiges Vertrauen in die Ordnung der Natur und den Geist, der sie lenkt, aus. Aber Lichtenberg kennt nicht nur das gelegentliche Glück des Erkennenden, immer wieder tritt einem beim Lesen auch das Misstrauen gegen alles menschliche Wissen entgegen - nur die Mathematik bleibt davon unberührt. Seine Skepsis bezieht sich vornehmlich auf die von ihm sogenannte "Wörter-Welt", auf den Erkenntniswert der Sprache und ihre Missbrauchsmöglichkeit.
Dem vielseitigen Naturforscher, der mit genauer Beobachtung und mit Experimenten den Rätseln der Elektrizität, der Gase sowie den Möglichkeiten der praktischen Verwertung der Ergebnisse auf der Spur war - ihm blieb der Mensch, ja er sich selbst ein Rätsel. Wie wenige andere Menschen hat er in den heute so betitelten "Sudelbüchern" sein Denken über seine Gedanken, Stimmungen, Gefühle, Wahrnehmungen hinterlassen; über seine Irritationen, seinen Aberglauben, seine Hypochondrie, sein religiöses Empfinden, seine sozialen Haltungen und schwankenden Überzeugungen. Was daran heute noch so besticht, ist die spürbare Aufrichtigkeit, der Versuch, sich selbst auf die Schliche zu kommen, nicht mehr auf sich selbst hereinzufallen. Lichtenberg hat auch als Wissenschafter gewusst, dass das Studium des Menschen andere Wege erfordert als die bloße Beobachtung und Vermessung der Natur.
Wenn heute, wieder einmal, von Wissenschaftsskepsis oder gar Wissenschaftsfeindlichkeit die öffentliche Rede ist, so kann man sich bei Lichtenberg-Lektüre zumindest teilberuhigen: "Fröhliche Wissenschaft" aktiv zu betreiben und zu vermitteln, geht mit dem Zweifel, der stets ein Begleitschatten des wissenschaftlichen Getriebes ist, fast notwendigerweise Hand in Hand.
Eigenständig denken
Er ist Gegenstand vieler Bücher geworden. Viele Verleger haben mit seinen "Pfennigwahrheiten" gute Gulden gemacht (seine naturwissenschaftlichen Schriften hingegen wurden schon von den Söhnen der Herausgeber stieffamiliär behandelt). Die als rororo-Taschenbuch erschienene Lichtenberg-Biographie von Wolfgang Promies, der auch der Herausgeber der wunderschönen kommentierten Lichtenberg-Ausgabe im Carl Hanser Verlag ist, sitzt der "Gestalt wie angegossen". Hübsch zu lesen ist "Die kleine Stechardin" von Gert Hoffmann - das Buch zeigt auch den lebens- und liebeslustigen Lichtenberg.
Einen Lichtenberg in Abschnitten - wovon mehrere der Philosophie gelten - versuchte Anacleto Verrecchia, der den italienischen Nachbarn den Italien-Liebhaber Lichtenberg nahebringen wollte: als vitalen Uomo universale, der mit Alessandro Volta getrunken hat und mit lateinischer Kultur getränkt war (über den Selbstmord schrieb er eine lateinische Disputierübung).
Aber der beste Anreger für Lichtenberg ist er selbst. Nicht zuletzt deshalb, weil er fast immer zum Weiterdenken anregt. "Wenn man viel selbst denkt, so findet man viel Weisheit in die Sprache eingetragen. Es ist wohl nicht wahrscheinlich, dass man alles selbst hineinträgt, sondern es liegt wirklich viel Weisheit darin, so wie in den Sprichwörtern." Die Sprache eröffnete ihm die Möglichkeit einer ganzen "Milchstraße von Einfällen".
Er war nicht ein "großer Leuchter, der mit anderer Leute Meinungen handelte"; sich allzu sehr mit dem Studium anderer Philosophen abzumühen vertrug sich nicht mit seiner Auffassung von "fröhlicher Wissenschaft". Aber das Licht seines Verstandes beleuchtete viele Gegenstände und fand an sich selbst großes Entzücken. Man lese, auch diesbezüglich und mit Andacht, "Amintores Morgendacht".
Rudolf Bretschneider, geboren 1944, ist Sozialforscher. Er war von 1973 bis 2007 Geschäftsführer und anschließend Konsulent von GFK-Austria.