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Eine Nase, lang wie die von Pinocchio

Von Petra Tempfer

Reflexionen
Ferdinand Wolf
© Pessenlehner

Sie protzen mit schnellen Autos,die sie nicht haben, lügen einem unverblümtins Gesicht und versprechen das Blaue vom Himmel. Und dennoch verzeihen wir ihnen: Kinder


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Es war einmal eine Holzpuppe, die erwachte zum Leben und bedeutete für seinen Erschaffer das größte Glück. Sie riss allerdings von zu Hause aus, war ungehorsam und schlimm. Da begann ihre Nase, mit jeder Lüge ein Stück zu wachsen...

So fängt das Märchen von Pinocchio an. Als Märchen beginnen auch viele Geschichten, die Kinder ihrem Gegenüber erzählen. Und zwar nicht nur hin und wieder, etwa wenn sie Mamas Lieblingsvase zerbrochen haben und sich mit einer Notlüge retten wollen. Oder Papas antiquarischer Buchschatz unglücklicherweise genau dort lag, wo das Saftglas umgefallen ist. Freilich, auch dann sind Kinder im Erfinden abenteuerlicher Geschichten wahre Meister. Sie haben aber schon vorher gelogen und werden es danach wieder tun. Kinder sind Wiederholungstäter. Sie lügen täglich mindestens einmal, wie die Wiener Kinder- und Jugendpsychologin Elisabeth Haibel-Schaffer erklärt, und sind doch gleichzeitig das ehrlichste Glied unserer Gesellschaft. Ein Widerspruch? Weit gefehlt.

"Kinder durchleben bis zum Alter von circa fünf Jahren ihre magische Phase. Eine Zeit, in der sie sich in einer verzerrten Wirklichkeit bewegen", so die Psychologin. Was bedeutet, dass sie sich so sehr in eine Situation hineindenken, bis sie mit ihr verschmelzen - und ihre Lüge selbst glauben. Bleiben wir zum Beispiel bei Papas Buchrarität, wie sie vor der Katastrophe noch unversehrt auf dem Wohnzimmertisch liegt. Daneben das Saftglas. Das Kind greift hin, stößt es um, und die liebevoll gepflegten Seiten des Buches, die mehr als hundert Jahre unversehrt und nur zart vergilbt überstanden haben, werden mit klebrigem Saft durchtränkt. Nicht nur der Vater, auch das Kind ist geschockt und empört. Hat doch tatsächlich diese schlimme Hand das Glas umgestoßen und das schöne Buch ruiniert.

"Ich war`s nicht!" "Dass die Hand von ihm gesteuert worden ist, begreift das Kindergartenkind noch nicht", meint Ruth Odehnal, Leiterin des Privatkindergartens des Theresianums in Wien-Wieden. In den Augen

des Kindes agieren die einzelnen Körperteile genauso wie der Teddybär oder die hinterlistige Tischkante, die es so oft stößt, eigenständig und lebendig. Der Kopf hatte das Glas jedenfalls nicht umstoßen wollen. Wodurch der Satz "Ich war`s nicht" von der dreisten Lüge ins Licht der Wahrheit rückt.

Harmloser als begossene Bücher und zerbrochene Vasen sind die Phantasielügen, bei denen alles, was das Kind beschäftigt, in eine - mitunter haarsträubende - Geschichte gebettet und voller Überzeugung präsentiert wird. Das Endergebnis sieht dann etwa so aus: Ein kleines Mädchen, nennen wir es Lena, kommt nach dem Kindergarten-Ausflug in den Tiergarten nach Hause und erzählt seinen Eltern ganz aufgeregt: "Ich habe einen Vogelstrauß gesehen, wie er ein sooo großes Ei (streckt seine Arme so weit, wir es nur geht, auseinander) gelegt hat." Das einzig Wahre an der Geschichte ist der Vogel im Zoo - der Rest Phantasie. "Vermutlich hat die Lehrerin vor dem Gehege erklärt, dass der Strauß riesengroße Eier legt", erläutert Haibel-Schaffer. Danach habe Lenas Phantasie Kapriolen geschlagen. Spätestens zuhause hatte sich das Mädchen bereits selbst überzeugt, einen Mega-Eier legenden Vogelstrauß gesehen zu haben. Seine Geschichte mag unwahr gewesen sein - gelogen war sie jedenfalls nicht.

"Ab circa sechs Jahren, kurz bevor das Kind in die Volksschule kommt, wird es zunehmend aus seiner Phantasiewelt gerissen, in das Erwachsenendenken gepresst und mit dem Satz ,Du darfst nicht lügen konfrontiert", setzt Ferdinand Wolf, Klinischer und Gesundheitspsychologe der MA10 (Wiener Kindergärten), die Geschichte des Lügens fort. Zwar stecke das bewusste Lügen in diesem Alter noch in den Kinderschuhen - dass es ganz praktisch ist, um damit Strafen zu entgehen, werde aber schnell erkannt.

"Er hat angefangen!" Sobald es darum geht, vergessene Hausübungen oder verlorene Übungszettel zu erklären, werden Volksschulkinder sogar über die Maßen erfinderisch. "Ich hab` meinen Stift verloren", "Das Heft war plötzlich nicht mehr in der Schultasche" oder "Unser Hund hat den Übungszettel gefressen" sind nur einige der Ausreden. "Wirklich bösartige Lügen mit dem Zweck, anderen bewusst zu schaden, sind mir bisher selten untergekommen", erzählt die Volksschullehrerin Claudia Kreuzinger aus ihrer Erfahrung. Selbst wenn zwei Schüler streiten und beide gleichzeitig "Er hat angefangen!" schreien, tun sie das allein deshalb, um der eigenen Bestrafung zu entgehen. "Sie lügen aus Angst vor Strafe und Liebesentzug", bringt es Wolf auf den Punkt.

Neben all jenen, die mit in Windeseile zusammengeschusterten Notlügen ihre Haut retten wollen, kristallisiert sich im Volksschulalter eine weitere Gruppe heraus: die der krankhaften Lügner. Auch das bewusste Stehlen und zwanghafte Erzählen von Schauergeschichten beginnt in dieser Zeit. "Beides ist Ausdruck einer verminderten Zuwendung", analysiert Wolf. Den Betroffenen fehle das Gefühl, vorbehaltlos geliebt zu werden. Sie bräuchten eine Therapie, um von dem Zwang, sich zu profilieren, wegzukommen.

Je größer Kinder werden, desto geschickter tarnen sie jedenfalls ihre Lügen, die sie immer ausgefeilter konstruieren. Der Biologielehrer Peter Keymar weiß das nur zu gut - und ist dennoch überzeugt, dass er jede Kinderlüge als solche entlarven kann. "Kinder sind ungeschickte Lügner, spätestens beim ersten Mal Nachfragen verstricken sie sich in Widersprüche", berichtet er. Wenn dann auch noch der Kopf rot wie ein Paradeiser wird, der Schüler herumzappelt und nervös um sich blickt, ist es Keymar sonnenklar: Die Zeichen stehen auf Lüge. "Wenn Erwachsene lügen, erfinden sie eine Geschichte. Kinder erfinden einen Fakt, bauen alles an ihm auf und sind dadurch leichter zu durchschauen."

"Sag`, ich bin nicht da?..." Selbst wenn sie G`schichtln erfinden, dass sich die Balken biegen - die Eltern haben ihrer Ansicht nach die Wahrheit zu sagen. Gleich den Leitfiguren eines Rudels dienen sie als Anhaltspunkt, sicherer Anker und Vorbild. Stellt sich einmal heraus, dass ein Elternteil gelogen hat, bricht eine Welt zusammen. Schon die Lügen des Alltags, die Erwachsenen vermutlich gar nicht bewusst sind, können die Entwicklung ihrer Kinder nachhaltig beeinflussen.

Falls zum Beispiel in irgendeinem Vorzimmer irgendeiner Familie das Telefon läutet, könnte sich folgende Lüge entwickeln: Das Kind hebt ab, sagt: "Die Oma ist es", und die Mutter flüstert: "Sag`, ich bin nicht da..." Was für die Mutter ein wenig geschwindelt ist, ist für das Kind unverständlich und unwahr. Dass es seine eigene Mutter war, die es zum Lügen angestiftet hat, wirft es aus der Bahn. "Kinder glauben an die Wahrheit - und man kann sie nur schwer anlügen", erklärt Haibel-Schaffer. Sie leben in einer anderen Gedankenwelt, wodurch sie höchst sensibel auf ihre Umwelt reagieren. Eine Mutter oder ein Vater mag "Alles in Ordnung" sagen und das Kind dabei anlächeln - falls es gelogen ist, in Wahrheit ein Streit in der Luft liegt oder Sorgen die Eltern plagen, wird das Kind dahinterkommen.

"Eltern sind gute Vorbilder, wenn sie zugeben, Schwächen zu haben", resümiert Wolf. Dazu zähle die Schwäche, auf eine Frage des Kindes keine Antwort zu wissen. Statt nach Ausflüchten und Lügengeschichten zu suchen, sollten sich die Eltern gemeinsam mit dem Kind auf Wahrheitssuche begeben. Das Gleiche gilt, wenn die Eltern ihr Kind beim Lügen erwischen: Zusammensetzen und reden statt ohne Kommentar bestrafen. Und sollte es einmal von selbst reumütig zur Tür herein kommen und sagen: "Mama, ich hab` Deine Lieblingsvase zerbrochen", dann darf man laut Wolf ruhig erst einmal sagen: "Danke, dass Du es zugegeben hast."

Trotz aller Moral, des Strebens nach korrektem Verhalten und Märchen mit Erzieherwert haben auch Kinderlügen ihre Berechtigung. Als Gegenpol zur Wahrheit sind sie während der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen sogar unabdingbar. "Gesunde Kinder sollten lügen lernen. Weil man sich in den anderen hineinversetzen muss, um überzeugend lügen zu können", betont Odehnal. Auf die Frage: "Hast Du schon einmal gelogen?" wird dennoch fast jedes Kind mit "Nein, noch nie!" antworten. Ob es in diesem Moment eine Lüge erzählt hat, sei dahingestellt.